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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen
Autoren: Hagena
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fünf Schlafräume. Nur das Dachfenster
     über der Treppe rührte ich nicht an, es war dick mit Spinnweben verhangen. Hunderte
     von Spinnen hatten hier über die Jahre ihre Netze aufgehängt, verfilzte alte Netze,
     in denen außer vertrockneten Fliegen vielleicht auch die Leichen ihrer einstigen
     Bewohner hingen. Alle Netze zusammen bildeten einen weichen weißen Stoff, einen
     milchigen Lichtfilter, rechteckig und matt. Ich dachte an das weiche Faltennetz auf
     Berthas Wangen. Es war so großmaschig, dass das Tageslicht von hinten durch ihre
     Haut zu schimmern schien. Bertha war im Alter durchlässig geworden, ihr Haus machte
     dicht.
    - Aber beide versponnen, sagte ich laut zum Dachfenster,
     und die Spinnweben wallten unter meinem Atem.

    Hier oben standen die mächtigen alten Kleiderschränke,
     hier hatten wir gespielt, Rosmarie, Mira und ich. Mira war ein Mädchen aus der
     Nachbarschaft, es war ein bisschen älter als Rosmarie und zwei Jahre älter als ich.
     Alle sagten, Mira sei ein sehr ruhiges Mädchen, aber das fanden wir nicht. Sie sagte
     zwar nicht viel, verbreitete aber dennoch Unruhe, wo auch immer sie sich befand. Ich
     glaube nicht, dass das nur an den schwarzen Sachen lag, die sie immer trug. Das gab
     es damals öfter. Das Beunruhigende lag vielmehr in ihren länglichen braunenAugen, bei denen immer ein weißer Streifen zwischen unterem Lid
     und Iris blieb. Und mit dem schwarzen Kajalstrich, den sie sich nur aufs untere Lid
     malte, sahen ihre Augen aus, als lägen sie falsch herum im Kopf. Das obere Lid hing
     schwer fast bis zur Pupille herab. Das gab ihrem Blick etwas Lauerndes und
     gleichzeitig Sinnlich-Träges, denn Mira war sehr schön. Mit ihrem kleinen dunkelrot
     geschminkten Mund, dem schwarzgefärbten Bob, diesen Augen und dem Lidstrich sah sie
     aus wie eine morphiumsüchtige Stummfilmdiva, sie war gerade sechzehn, als ich sie
     das letzte Mal sah. Rosmarie sollte einige Tage später auch sechzehn werden, ich war
     vierzehn.
    Mira trug nicht nur Schwarzes, sie aß auch nur Schwarzes.
     In Berthas Garten pflückte sie sich Brombeeren, schwarze Johannisbeeren und nur die
     ganz dunklen Kirschen. Wenn wir drei picknickten, mussten wir immer Bitterschokolade
     einpacken oder Schwarzbrot mit Blutwurst belegen. Mira las auch nur Bücher, die sie
     vorher in schwarzes Tonpapier eingeschlagen hatte, hörte schwarze Musik und wusch
     sich mit schwarzer Seife, die sie sich von einer Tante aus England schicken ließ. Im
     Kunstunterricht weigerte sie sich, mit Wasserfarben zu malen, zeichnete nur mit
     Skriptol oder Kohle, aber das besser als alle anderen, und da die Kunstlehrerin eine
     Schwäche für sie hatte, ließ sie sie gewähren.
    - Schlimm genug, dass wir auf weißes Papier malen müssen,
     und dann noch bunt! sagte sie verächtlich, aber sie zeichnete gerne auf weißem
     Papier, das merkte man.
    - Besuchst du auch schwarze Messen? fragte Tante Harriet.
    - Die bringen mir nichts, sagte Mira gelassen und blickte
     meine Tante unter schweren Lidern an, zwar seida wohl auch alles
     schwarz, aber unappetitlich und laut. Schließlich sei sie ja auch nicht in der
     CDU, fügte sie mit einem langsamen Lächeln hinzu. Tante
     Harriet lachte und reichte ihr die Schachtel mit After Eight hinüber, Mira nickte
     und nahm sich das schwarze Papiertütchen mit spitzen Fingern.
    Eine Leidenschaft hatte Mira jedoch. Eine, die nicht
     schwarz war. Sie war bunt und unstet und schillernd – Rosmarie. Was nach Rosmaries
     Tod aus Mira wurde, wusste nicht einmal Tante Harriet. Nur, dass sie nicht mehr im
     Dorf lebte.

    Ich kniete auf einer der Aussteuertruhen und lehnte mich
     mit den Unterarmen auf das Fensterbrett. Draußen flimmerten die Blätter der
     Trauerweide. Der Wind, ich hatte ihn fast vergessen in der Freiburger Sommerhitze
     und hinter den kühlen Betonmauern der Uni-Bibliothek. Wind war ein Feind von
     Büchern. Im Sonderlesesaal für Alte und Seltene Bücher durfte das Fenster nicht
     geöffnet werden. Niemals. Ich stellte mir vor, was der Wind mit den losen Blättern
     des rund dreihundertsiebzig Jahre alten Manuskriptes von Jakob Böhmes »De signatura
     rerum« anstellen könnte, und fast hätte ich das Fenster wieder geschlossen. Es gab
     eine Menge Bücher hier oben. In jedem Zimmer standen welche, und der große Raum, von
     dem aus die anderen Zimmer des oberen Stockwerks abgingen, war Stauraum für das, was
     nicht in den Keller durfte: alles aus Stoff und eben Bücher. Ich
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