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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen
Autoren: Hagena
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Kleiderschränke mit den einst prächtigen Gewändern aus
     zarten, müden Stoffen, die ich als Kind schon allesamt auf der Haut getragen hatte.
     Dort standen die alten Truhen mit dem gebügelten Leinen, den Nachthemden und
     Tischdecken mit Monogrammen von meiner Urgroßmutter, Tante Anna und Bertha, die
     Kopfkissen und Laken, Wolldecken, Daunendecken, Häkeldecken, Spitzendecken,
     Lochstickerei und lange Bahnen durchsichtiger weißer Gardinen. Die Deckenbalken
     lagen bloß, die Türen klafften. Und plötzlich riss es an mir, und dann musste ich
     weinen, weil alles so schrecklich und zugleich so schön gewesen war.
    Aber ich weinte auch schon mal öfter.
    Meine Tasche stellte ich in das alte Zimmer meiner Mutter,
     das Durchgangszimmer. Aus einer Seitentasche fischte ich mein Portemonnaie und lief
     schnell die Treppe hinunter. Wenn man rannte, schrie sie nur kurz auf. Ich griff
     nach dem Schlüssel, den ich an seinen Haken neben der Tür gehängt hatte, öffnete die
     Haustür, die Glocke schepperte, und dann schloss ich hinter mir ab. Die Treppe
     hinunter, einen Zug Rosen auf Lunge, kurzer Blick auf die Terrasse, früher war hier
     der Wintergarten gewesen, schnell, schnell durch den Rosenbogen und daskleine Gartentor, und ich stand draußen. Bei der Tankstelle gleich
     um die Ecke musste es doch auch ein paar Sachen zu essen geben. Auf Edeka und die
     wackeligen Köpfe der Dorfjugend hatte ich keine Lust, auch nicht auf die neugierigen
     Blicke der Leute, von denen jetzt sicher schon mehr unterwegs waren.

    An der Tankstelle war viel los. Die samstägliche
     Autowäsche wurde hier rituell vollzogen. Im Laden standen zwei Jungen vor dem
     Schokoriegelregal und mit tiefen Querfalten auf den Stirnen. Sie sahen nicht einmal
     auf, als ich mich an ihnen vorbeidrückte. Ich kaufte Milch und Schwarzbrot, Käse,
     eine Flasche Apfelsaft und einen großen Becher Multivitaminbuttermilch. Außerdem
     eine Zeitung, eine Tüte Chips und eine Tafel Nussschokolade für den Notfall. Na,
     zwei Tafeln, sicher war sicher. Ich konnte ja jederzeit wieder zurückkommen und noch
     mehr Nussschokolade holen. Zügig zur Kasse. Beim Rausgehen sah ich die beiden Jungen
     immer noch versunken an der gleichen Stelle stehen.

    Auf Berthas Küchentisch sahen meine Einkäufe falsch und
     läppisch aus. Das Brot in der Plastiktüte, der eingeschweißte Käse und der
     grellbunte Buttermilchbecher. Vielleicht hätte ich doch in den Edeka-Laden gehen
     sollen. Ich nahm den Käse in die Hand: sechs identische gelbe Rechtecke. Diese
     haltbar gemachten Dinge waren seltsam, irgendwann würde vielleicht auch dieser Käse
     im Heimatmuseum des Mühlenvereins ausgestellt werden. In der Bibliothek hatte ich
     einmal ein Buch über Eat-Art gesehen, darin gab es Fotos von ausgestelltem Essen.
     Das Essen selbst vergammelte, die Fotos hielten die Fäulnis auf, und das Buch war
     über dreißig Jahre alt gewesen. DasEssen war sicher längst fort,
     von hungrigen Bakterien verschlungen, doch auf diesen gelbstichigen Hochglanzseiten
     wurde es festgehalten in einer Art kulturellem Zwischenreich. Konservieren hatte
     etwas Unbarmherziges, vielleicht war auch das große Vergessen nichts als ein
     würdevolles Aufheben, wo sonst grausames Aufbewahren stattfand? Im Vergessen steckte
     das Essen, ganz offensichtlich hatte ich Hunger. Vielleicht sollte ich gleich noch
     einmal im Keller nach dem Johannisbeergelee schauen. Das schmeckte gut auf
     Schwarzbrot. Ich hatte die Butter vergessen.

    Die Küche war kalt und groß. Der Fußboden bestand aus
     Millionen kleiner schwarz-weißer viereckiger Steinchen. Das Wort Terrazzo lernte ich
     erst viel später. Als Kind konnte ich stundenlang auf dieses Steinchenmuster
     starren. Irgendwann, wenn es anfing, vor den Augen zu verschwimmen, tauchten
     plötzlich geheime Schriftzeichen aus dem Küchenboden auf. Doch sie verschwanden
     immer, kurz bevor ich sie entziffern konnte.
    Drei Türen hatte die Küche, durch die vom Hausflur war ich
     hereingekommen, dann gab es noch eine Tür mit Riegel, die führte hinunter in den
     Keller. Die dritte Tür ging hinaus auf die Diele.
    Die Diele war nicht drinnen und nicht draußen, sie war
     früher einmal Kuhstall gewesen, ihr Boden war aus gestampftem Lehm und hatte breite
     Ablaufrinnen. Von der Küche aus ging es drei Stufen hinunter, und dann standen dort
     die Mülleimer, Holz stapelte sich an den Rauputzwänden. Ging man von der Küche
     geradewegs durch den Stall,
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