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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen
Autoren: Hagena
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lehnte mich weiter
     aus dem Fenster und sah, wie sich die Kletterrose über das Dach der Haustür räkelte
     und vom Treppengeländer aus über die kleine Mauer neben der Treppe stürzte. Ich
     rutschte von der Truhe zurück ins Zimmer, meine Knie schmerzten. Humpelnd streifte
     ichdie Bücherregale entlang. Juristische Kommentare, deren
     Papier unförmig aufgequollen war, zerquetschten beinahe das gebrechliche
     »Nesthäkchen und der Erste Weltkrieg«, Nesthäkchens gebrochener Rücken trug
     altdeutsche Beschriftung. Ich erinnerte mich, dass innen mit Sütterlin-Kinderschrift
     der Name meiner Großmutter stand. Die Gesammelten Werke von Wilhelm Busch lehnten
     friedlich gegen Arthur Schnitzlers Autobiographie. Hier die »Odyssee«, dort der
     »Faust«. Kant schmiegte sich an Chamisso, die Briefe Friedrichs des Großen standen
     Rücken an Rücken mit dem Buch »Pucki als junge Hausfrau«. Ich versuchte
     herauszufinden, ob die Bücher willkürlich nebeneinandergesteckt oder nach einem
     bestimmten System angeordnet waren. Vielleicht nach einem Code, den ich kennen und
     entschlüsseln müsste. Nach der Größe standen sie jedenfalls nicht. Alphabetische
     oder chronologische Reihenfolgen waren ebenso auszuschließen wie Verlag,
     Herkunftsländer der Autoren oder Themengebiete. Ein Zufallssystem also. Ich glaubte
     nicht an den Zufall, wohl aber ans Zufallssystem. Wenn der Zufall System hatte, war
     er schließlich nicht mehr zufällig und damit, wenn auch nicht zu vermeiden, so doch
     zu berechnen. Alles andere waren Unfälle. Die Botschaft der Buchrücken blieb mir
     verschlossen, doch ich nahm mir vor, sie im Auge zu behalten. Im Laufe der Zeit
     würde mir schon noch etwas einfallen, dessen war ich gewiss.

    Wie spät war es überhaupt? Ich trug keine Armbanduhr,
     verließ mich auf die Uhren an den Apotheken, Tankstellen und Juweliergeschäften, auf
     die Bahnhofsuhren und die Wecker meiner Verwandten. Im Haus gab es viele prächtige
     Uhren, aber keine von ihnen ging. Der Gedanke, an diesem Ort ohne Uhr zu sein,
     beunruhigtemich. Wie lange hatte ich auf die Bücherwand
     gestarrt? War Mittag vorbei? Die Spinnweben im Dachfenster waren vielleicht schon
     wieder dicker geworden in der Zeit, die ich hier oben verbracht hatte. Ich blickte
     hinauf auf das schimmernde Rechteck und versuchte mich zu beruhigen, indem ich in
     großen Zeitkategorien dachte. Es war noch nicht Nacht gewesen, gestern war die
     Beerdigung, heute war Samstag, morgen würde Sonntag sein, übermorgen hatte ich mir
     freigenommen, dann fuhr auch ich wieder hinunter ins Badische. Aber es klappte
     nicht. Ich warf dem Bücherregal einen letzten Blick zu, schloss die Fenster der
     oberen Zimmer und stieg die Treppe hinunter, die, auch nachdem ich unten angekommen
     war, noch eine ganze Zeit lang knackte.
    Ich ergriff meine Reisetasche und stand unschlüssig im
     kalten Flur. Nach so langer Zeit und wahrscheinlich zum ersten Mal allein im Haus
     fühlte ich mich wie bei einer Inventur. Was war noch da, was nicht, und was hatte
     ich nur vergessen. Was war tatsächlich anders geworden, und was fühlte sich
     inzwischen anders an. Durch die Glasscheiben der Eingangstür sah ich die Rosen, die
     Sonne in der Weide und die Wiese. Wo sollte ich mich einrichten? Lieber oben, die
     unteren Zimmer gehörten noch meiner Großmutter, auch wenn sie sie die letzten fünf
     Jahre nicht betreten hatte. Im Heim war sie fast dreizehn Jahre gewesen, aber meine
     Tanten hatten sie oft für einen Nachmittag nach Hause geholt. Doch irgendwann wollte
     und später konnte sie nicht mehr in Autos einsteigen, nicht mehr laufen, nicht mehr
     sprechen. Ich öffnete die Tür zu Berthas Schlafzimmer. Es lag neben dem
     Arbeitszimmer, und seine Fenster gingen auch hinaus zum Hof mit den Linden. Die
     Jalousien waren heruntergelassen. Zwischen den beiden Fenstern stand Berthas
     Frisiertisch. Ichsetzte mich auf den Hocker und schaute in den
     großen Klappspiegel, der aussah wie ein aufgeschlagenes Buch. Meine Hände griffen
     nach den beiden Seitenteilen und zogen sie ein wenig nach innen. Wie früher sah ich
     mein Gesicht unzählige Male in den sich gegenseitig spiegelnden Seiten. Meine Narbe
     leuchtete weiß. Ich sah mich so oft hintereinander gespiegelt, dass ich gar nicht
     mehr wusste, wo ich selbst war. Erst als ich die eine Seite ganz umschlug, fand ich
     wieder hinaus.
    Ich ging noch einmal hoch und riss die Fenster weit auf.
     Hier oben standen die alten
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