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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen
Autoren: Hagena
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Und warum war sie da hinaufgeklettert? War sie gesprungen? War sie gefallen? War es eine Laune gewesen? Hatte sie es geplant? Hatte Mira sie aus Versehen losgelassen? Mit Absicht? Hatte sie Mira gezwungen, sie loszulassen? Was sollte das elektrisierende Gute-Nacht-Sagen? Wollte sich Tante Inga rächen? Wollte sich Rosmarie von mir verabschieden? Wollte sie mir noch ein Geheimnis verraten? Wollte sie sich versöhnen? Wollte sie um Verzeihung bitten? Wollte sie, dass ich sie um Verzeihung bitte? Waswäre gewesen, wenn ich gezwinkert hätte? Was wäre gewesen, wenn ich nicht die Beleidigte gespielt hätte? Was wäre gewesen, wenn ich hinter ihr hergeschlichen wäre? Was wäre gewesen, wenn ich sie draußen gerufen hätte? Was wollte mir Rosmarie in dieser Nacht sagen? Warum hatte sie versucht, mich zu wecken? Wollte sie von Anfang an rausgehen, oder wollte sie nur hinaus, weil ich nicht aufwachen wollte? Was wollte mir Rosmarie sagen, was, was? Was wollte Rosmarie mir sagen? Warum habe ich mich schlafend gestellt? Was wäre gewesen, wenn ich gekichert hätte? Was wäre gewesen, wenn ich gezwinkert hätte? Was wäre gewesen, wenn ich gehört hätte, was sie mir hatte sagen wollen? Was wollte sie mir sagen? Was?

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    XII. Kapitel
    Max war nicht nach Hause gegangen. In dieser Nacht liebten wir uns unter dem Apfelbaum.

    Als die Sonne aufging, fuhren wir mit den Rädern raus und schwammen im See. Das Wasser war weich und kalt, und wo es nicht silbern war, da war es schwarz. Ich begleitete ihn nach Hause, und er fragte, ob er nach der Arbeit vorbeikommen dürfe. Ich sagte ja.
    Als ich durch das taufeuchte Gras zur Obstbaumwiese stapfte, fiel mir zunächst nichts auf. Erst nachdem ich mich auf unserem Nachtlager ausgestreckt hatte und in den Baum hinaufblickte, sah ich es: Über Nacht waren die Äpfel reif geworden. Schwere Boskopäpfel mit rauer grünrotbrauner Schale hingen an den Zweigen. Es war Juni. Ich stand auf, pflückte einen, biss hinein, er schmeckte süß und sauer und die Schale etwas bitter.
    Da ging ich los, um Eimer und Körbe zu holen. Auf dem Weg in die Diele fiel mir etwas ein, und ich machte noch einen Abstecher zu den Johannisbeerbüschen. Aber hier war alles wie immer. Nur weiße und schwarze.

    Den ganzen Tag lang pflückte ich Äpfel.
    Es wurde heiß, der Baum war groß und trug schwer. Eine Aluminiumleiter hatte ich mir an den Stamm gestellt. Bei den Eimern und Körben und Wannen, die ich mir zusammengesucht hatte, lagen auch s-förmig gebogene Metallhaken, die man mit der einen Seite über einen Ast hängte. An der anderen Seite hakte man den Henkeleines Eimers ein. Mit diesem Eimer stieg ich dann viele Male die Leiter hoch und runter. Das Äpfelpflücken war anstrengend, aber der Baum machte es mir leicht. Seine Äste waren stark und ausladend, ich konnte auf ihnen stehen und klettern und die Äpfel gut erreichen.
    War es dieser Apfelbaum, von dem Bertha damals gefallen war, bevor sie als alte Frau wieder aufstand? Ich wusste es nicht, und es war auch nicht wichtig. Nach Rosmaries Sturz brach Harriet zusammen. Inga suchte für Bertha einen Platz in einem Pflegeheim. Aber es dauerte fast zwei Jahre, bis Harriet aus dem Haus auszog und sich eine Wohnung in Hamburg suchte. In der Zeit kümmerte sich Inga um ihre Mutter, brachte sie oft nachmittags ins Haus und kümmerte sich dabei gleichzeitig um Harriet. Meine Mutter reiste meist außerhalb meiner Schulferien nach Bootshaven. Das war eine Erleichterung, denn ich wollte nicht mehr mit. Ein paar Mal war ich kurz in den Semesterferien dort, oder ich besuchte Inga in Bremen. Wenn sie Bertha besuchte, ging ich – bis auf das eine Mal – nicht mit. Ich merkte, dass ich meine Tante und meine Mutter damit enttäuschte, konnte es aber nicht ändern.
    Harriet hielt es nicht lange in Hamburg, und sie reiste für mehrere Monate nach Indien, wo sie in einem Ashram Seminare besuchte. Das schien ihr gutzutun. Die Seminare kosteten viel Geld, sie zog in eine noch kleinere Wohnung und arbeitete noch mehr. Irgendwann trug sie eben auch diese Holzkette mit dem Gesicht des Bhagwan darauf und unterschrieb ihre Briefe fortan mit dem Namen Mohani. Aber ansonsten sahen wir keine großen Veränderungen. Die Gehirnwäsche, die meine Mutter und Inga fürchteten, blieb aus. Manchmal sagte sie Dinge über Spiritualität und Karma. Doch über so etwas hatte sie auch schon vorher gesprochen. Als Rosmarie nochlebte. Christa sagte, alles sei gut, was Harriet guttue. Denn wer
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