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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen
Autoren: Hagena
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Arme schimmerten weiß. Ich konnte nicht rufen. Mund und Zunge fühlten sich an, als hätten sich dicke graue Spinnweben über sie gelegt. Bertha neben mir begann zu zittern.
    Mira begann zu schreien. Ich brauchte mehrere Sekunden, bis ich begriff, dass diese Schreie wirklich voneinem menschlichen Wesen stammten. Für einen Moment war ich abgelenkt. Als ich Rosmarie wieder im Blick hatte, sah sie mir voll ins Gesicht. Ich erschrak. Ihre Augen waren fast weiß im Mondlicht. Sie schien ihr Raubtierlächeln zu lächeln, aber vielleicht hatte sich auch nur ihre Oberlippe über den Schneidezähnen hochgeschoben. Plötzlich warf sie den Kopf in den Nacken, nahm den Fuß vom Metallrahmen und setzte ihn auf das Glas. Erst passierte gar nichts, dann knirschte es. Mira verstummte. Streckte die Hand aus. Rosmarie ergriff sie.
    Und dann geschah es: Mira zuckte zurück. Rosmarie hatte ihr einen elektrischen Schlag verpasst. Sie verlor die Hand ihrer Freundin. Krachen und Knirschen. Ein dumpfer Aufprall und ein nicht enden wollendes schrilles Klirren: eine Glasscheibe nach der anderen löste sich aus der Verankerung und fiel zu Boden. Glas spritzte auf Stein. Glas spritzte. Glas. Die monddurchflutete Nachtluft funkelte von Splitterstaub und Scherben. Ich schrie und rannte hinein, um meine Mutter und Harriet zu holen. Als ich in den Flur lief, kamen mir alle drei Schwestern schon entgegen. Inga war nicht im Schlafanzug. Wir rannten zusammen in den Garten. Mira war von der Weide geklettert und kniete neben Rosmarie und schrie.
    Rosmarie lag mit dem Rücken auf den hellen Steinen. Der Nachtwind spielte mit den Ärmeln ihres Kleides. Glasscherben lagen wie Kristalle um sie herum. Ein kleiner Blutfaden rann ihr aus der Nase.
    Harriet warf sich auf ihre Tochter und versuchte Mund-zu-Mund-Beatmung. Meine Mutter und Tante Inga rannten ins Haus und riefen den Krankenwagen. Er kam und nahm Rosmarie, Mira und Harriet mit.
    Als sie fort waren, blieb eine dunkle Blutlache zurück.
    Es stellte sich heraus, dass Rosmarie an einer Gehirnverletzung gestorben war. Sie hatte kaum Blut verloren.
    Die Blutlache war von Mira.
    So erfuhren wir von dem Schwangerschaftsabbruch, den Mira am Tag zuvor hatte vornehmen lassen.

    Bertha war verschwunden. Wir mussten sie suchen. Christa, Inga und ich waren froh, dass wir etwas zu tun hatten. Gemeinsam streiften wir durch den Garten. Sie stand bei den Johannisbeerbüschen.
    - Anna, stuck mich mal.
    Sie lächelte mich unsicher an.
    - Du bist nicht Anna.
    Ich schüttelte den Kopf.
    - Wo ist Anna? Sag mal. Ich fips nicht, was diese Bälle klecken.
    Sie zeigte auf die Beeren.
    - Wohin sollen wir das milzen? Ich meine, davon wird es auch nicht besser. Oder? Sag doch mal. Das bafft ein Sprang. Wenn wir wollen. Ich armes Kind. Ich armes Kind.
    Bertha wurde noch unruhiger. Sie bückte sich immer wieder, um heruntergefallene Beeren vom Boden aufzuheben.
    - Und da wird immer noch getanzt und getanzt. Hier ist nur Grotsch. Man kann doch auch nicht. So wie es mal war. Die Post ist da. Tralala. Und jetzt ist alles.
    Sie weinte.
    Außerdem hatte sie sich in die Schlafanzughose gemacht. Ich hätte so gerne auch geweint. Aber es ging nicht. Ich nahm Bertha bei der Hand, aber da wurde sie böse und riss sich los. Ich drehte mich um und ging weg. Christa und Inga sollten das hier machen. Ich konntees nicht. Bertha kam hinter mir her. Als sie Christa und Inga sah, winkte sie und fiel ihnen um den Hals.
    - Da sind meine Mütter! Das ist ja eine Freude. Die Gnädigen.
    Inga und Christa hakten Bertha unter, ich ging langsam hinter ihnen her. Wer hier eigentlich wen stützte, war nicht zu erkennen.

    Seit jener Nacht weigerte ich mich in jeder darauf folgenden Nacht, mir folgende Fragen zu stellen:
    Was wollte mir Rosmarie sagen? Warum wollte sie mich wecken? Wollte sie mit mir sprechen? Wollte sie, dass ich mit Mira spreche? Wollte sie, dass ich sie begleite? Und wenn ja, wo hatte sie ursprünglich hingewollt? Vielleicht an die Schleuse oder zum See, um zu schwimmen? Vielleicht einfach nur auf den Apfelbaum hinterm Haus? Vielleicht sogar zu Tante Harriet? Hatte sie mich und Bertha dort in der Dunkelheit stehen sehen? Warum hatte ich nicht gerufen? Warum sie mich nicht? Wusste sie von Miras Abtreibung? Wenn nein, hatte Mira es ihr dann am Abend erzählt, und Rosmarie war deshalb gesprungen? Ein Leben für ein Leben? Wenn ja, wollte sie mir das vielleicht erzählen? Wenn ja, war sie erleichtert? Wenn ja, hatte sie dann Angst bekommen?
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