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Der Gesang von Liebe und Hass

Titel: Der Gesang von Liebe und Hass
Autoren: Cordes Alexandra + Horbach Michael
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Kleidung, das Khakihemd und die Khakihose.
    In der Nacht wird es schneien. Und er dachte wieder an Ajax und an die Tage seiner Kindheit, wenn er auf den ersten Schnee wartete, denn der erste Schnee versprach viele schöne Aufregungen, Schneeballschlachten und Schlittenfahrten, Wanderungen durch die weißgrünen Wälder und schließlich das immer näherkommende Weihnachtsfest, auf das er das ganze Jahr über wartete.
    In seiner Jugend bekamen die Kinder keine Geschenke ›zwischendurch‹. Geschenke gab es nur zu Weihnachten, und dann staunte er immer, wie der Vater seine Gedanken zu erraten schien. Nie wurde er enttäuscht in seinen geheimen Wünschen, und nie wurde er aufgefordert, eine Wunschliste aufzustellen, um sie dem heiligen Nikolaus oder dem Christkind zu schicken. Sein Vater wußte immer alles im voraus – den Wunsch nach der ersten Eisenbahn, deren Lokomotive er mit einem kleinen Schlüssel aufziehen mußte, bis die Feder ganz eng gewunden war und den Zug vier- bis fünfmal über den einfachen Rundkurs fahren ließ, bis sie abgelaufen war. Den Schlüssel trug Paul von da an an einer Schnur um den Hals, die er nicht mehr ablegte, bis er zum nächsten Weihnachten die Plastilin-Indianer geschenkt bekam und das Holzfort, das von den Cowboys verteidigt wurde. Im Jahr danach waren es zwei Karl Mays, ›Winnetou I‹ und ›Im Land der Skipetaren‹, und danach war er schon so groß, daß er kaum noch mit der Eisenbahn oder den Indianern spielte, sondern lieber allein mit dem Hund im Wald herumstrich, sein brennendster Wunsch ein Luftgewehr. Und auch dieser wurde ihm erfüllt, aber ausnahmsweise einmal nicht zu Weihnachten, sondern zu seinem vierzehnten Geburtstag. ›Jetzt bist du ein erwachsener Mann, jetzt kannst du sogar schießen‹, sagte Gustav Brenski, und selbst der Junge konnte den sarkastischen Ton aus seiner Stimme heraushören. Aber sein Wunsch war erfüllt worden. Wie der Vater ihn erraten hatte, das wußte nur der große Manitou.
    Und dann, mit einem Mal, war die Jugend vorbei, die Schule vorbei, die schönen Jahre am See waren vorbei, Ajax war tot, sie lebten jetzt in Berlin, und wenn es hier schneite, dann wurde der Schnee gleich zu Matsch durch die Huftritte all der Pferde vor all den Droschken und Lastwagen, und durch die Reifen der Autos, die sich von Monat zu Monat vermehrten, wie die Wanzen, wie Gustav immer zu sagen pflegte, der die schnaubenden Benzinkutschen haßte und dennoch sagte: ›Ja, ich kann sie nicht ausstehen, aber das gibt Arbeit für viele, die keine Arbeit haben. Die neuen Fabriken, die die Autos herstellen, das gibt Arbeit, Junge, und Deutschland hat Arbeit nötig, denn sonst geht es kaputt.‹
    So träumte Brenski sich in den Schlaf. Als er erwachte, hatte es tatsächlich geschneit, der Schnee war schräg in die Höhle gefallen und hatte ihn unter einer handbreiten Schicht begraben. Er stand auf, schlug sich den Schnee von den Schultern, und dann blieb er wie angewurzelt stehen. Direkt vor der Höhle liefen die Spuren von zwei Männern vorbei, die deutlich sichtbaren Abdrücke von Stiefelsohlen. Eine Streife hatte ihn passiert, als er unter der Schneedecke schlief, und ihn nicht bemerkt.
    Er raffte schnell seinen jetzt bis auf die Dynamitpatronen leeren Brotbeutel und die Feldflasche an sich, prüfte das Gewehr, eine Patrone steckte im Schloß, der Sicherheitshebel war umgelegt, er trat in die Spur der Männer, verwischte mit einem Laubwedel seine Spuren in der Höhle, ging dann in der Fährte der Männer weiter. Aber er brauchte sich keine große Mühe zu geben, seine Spur zu verbergen, denn es begann wieder zu schneien, in dichten, wabernden Wolken, und er folgte schließlich einem Weg zwischen Weidezäunen, der zu einer Ortschaft führte. Es war noch so früh am Morgen und noch so dunkel, daß er unbemerkt durch den Ort kam. Am Ende des Ortes sah er ein Hoftor offenstehen. Er betrat den Hof. In einem Fenster neben der Haustür des Gehöfts brannte ein Licht, klein und wie ein fern erlöschender Stern. Er ging durch das Schneegestöber hin, schaute hinein. Nur eine alte Frau saß dort und trank Milch aus einer Schale. Brenski drückte die Klinke der Tür nieder und trat ein. Er war so müde, so ausgehungert, so zerschlagen, daß ihm jetzt alles egal war.
    Die alte Frau blickte auf, Erstaunen und doch Besonnenheit in den Augen, die sich nicht so leicht erschrecken ließ, und fragte: »Qué desea, mi hijo?« Was wünschst du, mein Sohn?
    »Quisiera comer algo, y quisiera
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