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Der Gesang von Liebe und Hass

Titel: Der Gesang von Liebe und Hass
Autoren: Cordes Alexandra + Horbach Michael
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des Dorfes, und Brenski konnte alles wie vom obersten Rang der Berliner Oper aus sehen, wohin sein Vater ihn oft mitgenommen hatte, auf den Stehplatz, wo die musikgierigen Schüler und Arbeitslosen, die Lernhungrigen wie sein Vater und er sich drängelten. ›Freischütz‹ war die Lieblingsoper seines Vaters gewesen, und er, Paul, zuckte immer zusammen, wenn er die Klänge aus ›Carmen‹ hörte, mit denen Bizet ihn als Kind verzaubert hatte.
    Der Trupp hielt, die Worte des Offiziers drangen laut, aber unverständlich zu Brenski herauf.
    Kein Mensch im Dorf zeigte sich. Die Läden blieben geschlossen, und erst jetzt wurde Brenski das Tragische bewußt, das von dem Dorf ausströmte.
    Nur die alte Frau in dem schwarzen Kleid mit dem schwarzen Kopftuch stampfte weiter mit dem Holzklöppel in der Schüssel herum, als höre sie nichts; und dies war offenbar auch der Fall.
    Der Offizier ließ die drei Gefesselten sich gegen die Mauer einer Cantina stellen, auf der die Parole der Republikaner, FREIHEIT ODER TOD, noch nicht überpinselt worden war. Aber die Nacionales konnten die Parole ja gleich beibehalten, denn auch sie nahmen die ›Freiheit‹ für sich in Anspruch.
    Der Zug der Nacionales machte eine Halbwendung, formierte sich neu, sechs Soldaten traten drei Schritte vor, legten an.
    Der Offizier, der einen Säbel trug, ging zu den einzelnen Gefangenen, sprach mit ihnen, fragte sie offenbar, ob sie eine Binde vor den Augen wünschten.
    Die Gefangenen blieben steif stehen, keiner antwortete.
    Bis der Offizier den Degen hob.
    Da schrien sie alle drei wie aus einer Kehle: »Eviva España!«
    Die Schüsse krachten, die drei fielen um wie Puppen, die von der Hand eines ungezogenen Mädchens weggeworfen werden, rot färbte sich der Staub.
    Es lebe Spanien!
    Doch welches Spanien?
    Der Offizier schrie etwas in den Ort hinein, dann marschierten die Soldaten wieder ab, ohne sich um die Erschossenen zu kümmern. Sie verschwanden wieder in der Nebenstraße, auf die Brenski vorher schon sein Auge geworfen hatte.
    Alles blieb ruhig.
    Dann, nach zehn, fünfzehn Minuten, öffneten sich Türen, erst in einem Haus, dann in einem anderen, dann im ganzen Dorf. Menschen erschienen, zögerten erst, gingen dann auf die Toten zu, langsam, dann immer schneller, bis sie rannten, und ein einziger unartikulierter Schrei kam aus ihren Kehlen.
    Brenski wandte sich ab. Er hatte dem Tod so oft ins Gesicht geschaut, daß er genug davon hatte.
    Er kroch in den Wald zurück, schlug oberhalb von Baja de Duero einen großen Bogen um die Ortschaft, erreichte dann die Straße nördlich davon, überquerte sie schnell, stieg drüben wieder im Wald hoch. Er fand einen Felsen, unter dem es trocken war und der die Hitze des Tages so gefiltert hatte, daß er sie genießen konnte wie einen kühlen Trank.
    Er machte sich ein Lager aus Farnkraut und trockenem Laub zurecht, der Himmel färbte sich mit den letzten Violettönen vor der Nacht, und dann war er eingeschlafen, von einer Minute zur anderen.
    Er träumte davon, er sei auf dem Weg nach Santiago de Compostela.
    Welch ein Unsinn, dachte er im Traum, morgen werde ich erschossen.
    Doch in der Nacht weckte ihn ein Käuzchen, das neugierig in der Nähe herumstrich, und er wußte, es war kein Traum, sondern Wirklichkeit. Er war auf dem Weg nach Santiago de Compostela, und es kam nur darauf an, daß er so schlau wie ein Fuchs der Sierra, so verschlagen wie ein Wolf der Kantabrischen Berge war, um sein Ziel zu erreichen. Er trank ein wenig Wasser aus der Feldflasche, schlief dann wieder ein.
    Als er aufwachte, stand die Sonne zwischen den Bäumen, bereit, den Sprung in die Mitte des Himmels zu wagen. Brenski rieb sich die Augen, brach einen Brocken Brot von dem nun schon harten Laib ab, kaute es langsam, aß ein Stückchen Käse, trank wieder einen Schluck Wasser, mehr nicht. Wer in der Hitze zu viel trinkt, schwitzt auch zuviel. Und wer zu viel schwitzt, der wird schneller erschöpft. Das war eine Weisheit, die man als Soldat schnell erlernte. Man lernte viel, wenn man Soldat war, nur nicht, wie man eine Nonne zu beschützen hatte.
    Er lachte freudlos auf.
    Sie wird nie nach Santiago kommen, meine kleine Maria Christina. Wenn sie noch lebt, dann läuft sie zu ihren Eltern und will nichts mehr hören und nichts mehr sehen von dem, was geschehen ist. Sie will durch nichts mehr daran erinnert werden.
    Und er schämte sich sogleich, daß er so dachte. Hatte Maria Christina ihm nicht bewiesen, wie sie zu ihm stand?
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