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Bis unter die Haut

Bis unter die Haut

Titel: Bis unter die Haut
Autoren: Julia Hoban
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KAPITEL EINS
    Vielleicht ist es nur ein Kratzer.
    Willow Randall starrt das Mädchen an, das ihr gegenübersitzt. Manchen würde sie vielleicht auffallen, weil sie hübsch ist. Anderen wegen ihrer flammend roten Haare. Die Jungs in der Klasse würden bemerken, dass sich unter ihrem Shirt deutlich der BH abzeichnet. Aber Willows Blick wird von etwas anderem gefesselt: einem rot entzündeten Striemen, der vom Ellbogen bis zum Handgelenk des Mädchens verläuft. Wenn sie angestrengt schaut, kann Willow fast ein paar Sprenkel getrockneten Bluts erkennen.
    Woher hat sie den? Sie sieht eigentlich nicht so aus. Vielleicht hat sie eine Katze. Eine ganze Horde von Kätzchen.
    Genau. Sie hat mit ihrer Katze gespielt. Dabei muss es passiert sein.
    Willow lehnt sich in ihren Stuhl zurück. Aber ihr prüfender Blick ist nicht unbemerkt geblieben. Das Mädchen dreht sich zu einer seiner Freundinnen um und fängt an zu flüstern.
    Psspssspssss …
    Worüber reden sie?
    Willow schaut unsicher zu den anderen Mädchen. Sie hat das ungute Gefühl, dass sie über sie reden, und sie ist sich auch ziemlich sicher, dass sie weiß, was sie sagen.
    Das ist die, die keine Eltern mehr hat.
    Nein. Das ist die, die ihre Eltern umgebracht hat.
    Ihr Geflüster erinnert sie an das Rascheln von getrocknetem Laub. Willow hat dieses Geräusch noch nie leiden können. Sie kämpft gegen das Bedürfnis an, sich die Hände auf die Ohren zu pressen, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Psspssspsspsss …
    Das Geräusch droht, sie zu überwältigen.
    Es gibt nur eine Möglichkeit, es zu stoppen.
    Sie steht mit einem Ruck auf, aber ihr Schnürsenkel verfängt sich am Stuhlbein und sie stolpert nach vorn. Ihre Bücher fallen polternd zu Boden. Sie greift mit beiden Händen nach der Tischplatte, um nicht hinzufallen.
    Tödliche Stille. Alle starren sie an.
    Sie spürt, wie ihr die Hitze ins Gesicht steigt, und wirft den beiden Mädchen, die miteinander geflüstert haben, einen finsteren Blick zu.
    »Willow?« Ms Benson klingt besorgt. Und ihre Sorge ist nicht gespielt. Sie ist eine nette Lehrerin.
    Sie ist nett zu den dicken Schülern und zu den Pickelgesichtern, warum also nicht auch zu denen, die keine Eltern mehr haben? Denen, die ihre Eltern umgebracht haben?
    »Ich muss nur … nur … auf die Toilette.« Die Hitze in ihrem Gesicht steigert sich ins Unerträgliche.
    Ms Benson nickt, aber sie wirkt skeptisch, als würde sie etwas ahnen.
    Das ist Willow in diesem Moment vollkommen egal. Sie denkt nur daran, so schnell wie möglich zu verschwinden und diese grinsenden Gesichter hinter sich zu lassen. Sie hebt ihre Bücher vom Boden auf, greift nach ihrer Tasche und rennt den Flur hinunter, sobald sie aus der Tür ist.
    Auf der Toilette riecht es nach kaltem Rauch. Es ist niemand da. Gut. Die Tür zu einer der Kabinen steht offen. Mit einem Tritt stößt Willow sie hinter sich zu und klappt den Klodeckel herunter, bevor sie sich hinsetzt.
    Sie durchwühlt ihre Tasche. Wird panisch, als sie nicht findet, was sie so dringend braucht. Hat sie vergessen, ihren Vorrat aufzustocken? Als sie die Hoffnung schon fast aufgegeben hat, als sie kurz davor steht, aufzuheulen wie ein Hund, schließt sich ihre Hand um glattes Metall. Ihre Finger prüfen die Schärfe der Schneide. Perfekt. Es ist eine frische Klinge.
    Das Zischeln der Mädchen hallt in ihrem Kopf wider. So laut, dass es jeden vernünftigen Gedanken verdrängt. Sie krempelt ihren Ärmel hoch.
    Der Schmerz schaltet den Lärm aus. Wischt die Erinnerung an die starrenden Gesichter fort. Willow schaut auf ihren Arm, schaut auf das Leben, das aus ihr herausquillt. Winzige rote Perlen, die zu riesigen Rosen erblühen.
    Wie die Pfingstrosen, die Mom immer gepflanzt hat.
    Willow schließt die Augen, saugt die Ruhe durstig in sich auf. Mit jedem Eintauchen der Rasierklinge wird ihr Atem tiefer. Jetzt herrscht Stille. Nicht wie die von vorhin, als sie gestolpert ist. Diese Stille ist vollkommen und rein.
    Man kann eigentlich nicht sagen, dass etwas, das so wehtut, sich wirklich gut anfühlt. Es ist eher so, dass es sich richtig anfühlt. Und etwas, das sich so richtig anfühlt, das kann einfach nicht schlecht sein. Es muss gut sein.
    Es ist gut. Besser als gut.

KAPITEL ZWEI
    »Nein, das ist noch bis zum sechsundzwanzigsten entliehen«, verkündet Miss Hamilton mit ihrem routinierten Lächeln. Wil low steht neben ihr hinter der Buchausgabe und unterdrückt ein Gähnen. Sie ist müde. Zum Glück ist ihre
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