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Der Gesang von Liebe und Hass

Titel: Der Gesang von Liebe und Hass
Autoren: Cordes Alexandra + Horbach Michael
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den armen Kerl erst gesund werden und zu seiner Niña nach Santiago kommen.«
    Wochen vergingen.
    Der Winter brach herein, und der Schnee lag fußhoch auf dem Hof.
    Man ließ die Baiveras, so hieß die Familie, in Ruhe, denn es ging die Rede um, schon seit alters her, daß die Frauen der Familie über mystische Gaben verfügten, ja, so tuschelte man, Hexen seien früher unter ihnen gewesen. Selbst die Falange-Miliz mied den Hof. Sicher wußte man – denn was bleibt verborgen in einem solchen Nest wie Altaclera –, daß Juanito wieder da war, der verdammte Rote. Natürlich wußte man auch, daß da ein kranker Kerl im Haus war, aber niemand tat etwas; für Galicien, die äußerste Westprovinz Spaniens, sein Tor zum großen Atlantik, war der Krieg schon lange vorbei. Jetzt wurde an den Küsten des Mittelmeers und um Madrid gekämpft; die Republik lag schon in ihren Todeszügen. Was wollte man da noch genau hinschauen, ob sich der eine oder aridere Republikaner versteckt hielt? Wenn alles vorbei war, dann würde man gefahrlos Rache nehmen, abrechnen können. Aber nicht mit dem Sohn einer Hexe, nein, das war zu gefährlich. Deswegen ließ man die Baiveras in Ruhe.
    Watte, weiße Watte und dahinter grauer Schaum, das war alles, was Brenski sah, wenn er aufwachte; oder besser, wenn er dachte, daß er aufwachte. Weißer Schaum, graue Wolken, ein Auf und ein Ab, und er schrie, und er spürte wieder die kühlende Hand, das feuchte Tuch.
    »Maria Christina«, flüsterte er.
    Und die Stimme der alten Frau antwortete ihm: »Sí, mi hijo, ich bin da.« So ging es von einem Tag zum anderen und von einer Nacht zur anderen.
    »Ich muß gesund werden für Maria Christina«, flüsterte er.
    »Natürlich, mi hijo.«
    Der Arzt kam und sagte: »Er muß in die Klinik. Für Kinder sind Masern ein Kinderspiel. Doch nicht für Erwachsene.«
    »Wird er …«
    »Ja, er wird blind bleiben.«
    Und Brenski hörte dies zum ersten Mal, da er ganz klar war, und er schrie auf, ein langes, wildes Heulen wie das eines Tieres, das in eine Falle geraten ist.
    Danach war es wieder schwarz um ihn.
    Die Tage vergingen, die Wochen.
    Kurz vor Weihnachten konnte er zum ersten Mal aufstehen.
    Juanito führte ihn. Er hatte ihm einen Stock geschnitzt und eine gelbe Armbinde genäht.
    »Ich bleibe blind, nicht wahr, Doña Clara?« fragte Brenski beim Abendessen in der Küche.
    »Sí, mi hijo.«
    »Dann kann ich nicht mehr nach Santiago gehen.«
    »Du mußt nach Santiago gehen. Deine Maria Christina wartet dort.«
    »Vielleicht ist sie längst tot.«
    »Sie wartet bestimmt auf dich in Santiago.«
    »Ich werde also ein Krüppel bleiben?«
    »Mi hijo, Gott hat es gewollt. Doch enttäusche nicht die Liebe deiner Niña. Sie braucht dich, wie du sie brauchst, jetzt viel mehr noch als zuvor.«
    »Nein«, sagte Brenski, »ich kann nicht nach Santiago gehen.«
    Drei Tage vor Weihnachten beriet sich Juanito lange mit seiner Mutter. Sie kam zu Brenski; er konnte sich jetzt schon gut bewegen, er stieß nirgendwo mehr an.
    »Wir können fahren«, sagte Doña Clara. »Wir fahren nach Santiago de Compostela.«
    »Ich will nicht.«
    Aber er ließ sich doch zu dem Wagen führen, einem knatternden alten Laster, der Kartoffeln nach Santiago brachte und von Juanito gesteuert wurde.
    »Ich will nicht«, sagte Brenski, »wie soll ich denn meiner Maria Christina gegenübertreten, wenn sie wirklich noch lebt? Wie soll ich sie finden, denn ich kann doch nichts sehen!« Und er begann zu weinen, zum ersten Mal, seitdem er erblindet war.
    »Weine, mi hijo«, sagte Doña Clara, »weine ruhig. Und deine Niña werden wir finden.«

32.
    »Ob es ein Junge wird?« fragte Miriam.
    »Ich weiß es nicht.« Maria Christina lächelte. Sie half Miriam bei den Vorbereitungen für Chanukka, das Lichterfest, das in diesem Jahr fast auf den Tag genau mit dem christlichen Weihnachten zusammenfiel. Maria Christina hatte ihre Tage gezählt, und sie wußte, in drei Tagen würde es soweit sein.
    Genau am Heiligen Abend.
    »Es wird ein Christkind.« Onkel Avram lächelte. Und da weinte Maria Christina.
    »Warum ist Brenski nicht gekommen?«
    »Er konnte nicht, sonst wäre er hier.«
    »Glaubst du, Onkel Avram, daß er noch lebt?«
    »Was denn sonst?« Aber die gütigen Augen wichen ihr aus.
    »Er war ein Deserteur. Sie hatten seinen Steckbrief dabei, die Militärpolizisten, als sie uns verhafteten.«
    »Denk an dein Kind.«
    »Ja, ich denke an mein Kind. Von Brenski.«
    Weihnachten. Noch zwei Tage.
    »Warum
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