Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
Autoren: Jonathan Lethem
Vom Netzwerk:
Sie tupfte ihn mit Servietten aus braunem Recyclingpapier ab, und er schaltete das Gebläse ein, um die Scheiben freizubekommen, die von seinen letzten heißen Atemzügen beschlagen waren.
    »Wow.«
    »Selber wow.«
    »Sowas kann einen umbringen.«
    »Es gibt viele Dinge, die es nur in die Nachrichten schaffen, wenn wirklich wer abkratzt.«
    Das Wageninnere war bei der Abgabe mit Mietformularen, Billiglandkarten, Kaffeebechern und Burgertüten von Wendy’s übersät, und die zusammengeknüllten Servietten, mit denen sie ihn von ihrem Unterarm abgewischt hatte, fielen in dem Haufen nicht weiter auf. Er hatte vergessen zu tanken, also verlangten die puttengesichtigen Handlanger im Autoverleih zwei Dollar den Liter fürs Volltanken, aber diese ganz normale Abzocke sah er jetzt nur als Eintrittspreis in einen Traum, als absurden Wegweiser dafür, wie weit er sich von der korrupten Welt entfernt hatte. Eigentlich war es erstaunlich, dass Sergius bloß eine Plastikkarte auf den Tresen legen musste, und schon stellten die Leute ihm nicht die Fragen, die ihm wie Moskitos im Kopf herumsurrten. Nein, nicht wie Moskitos, Menschen waren keine Moskitos, welch ein schrecklicher Vergleich. Aber durch seine Begegnung mit Lydia im Kielwasser des idiotischen Besuchs bei Cicero(welch ein zorniger Mann, welch ein menschlicher Versager in seiner keimfreien Villa am Meer! dem Mausoleum seiner radikalen Empfindsamkeit, für die er dann seine Studenten beschimpfte!) hatte Sergius das Gefühl, in ein neues Leben entschwebt zu sein, das ihn zu bedrängen schien – in seiner Erfahrung war das noch nie dagewesen oder nicht mehr, seit er in der Volksfeuerwache in den Armen seiner Mutter eingeschlafen war – und ihm gleichzeitig völlig schleierhaft war. Alles bedeutete etwas, aber wenn er doch bloß wüsste was. Er dachte nicht bewusst an Tommy und Miriam, aber beide verweilten in ihm ausnahmsweise als stille Gegenwärtigkeiten. War das vielleicht das Licht? Die Struktur dieses neuen Lebens war blasenfrei. Wie Sirup. Die Moskitos surrten, logierten an ihren Plätzen in den Tiefen des Sirups, und nur Sergius und Lydia an seiner Seite hatten das Privileg hindurchzuwaten.
    »Hey, wo willst du eigentlich hin?«, fragte er. Er klang trunken. Er war trunken. »Einen Augenblick lang hab ich mir vorgestellt, du würdest ins Flugzeug steigen!« Sie war mit ihm im Zubringerbus die kurze Strecke vom Autoverleih zum einzigen Terminal vom Portland Jetport gefahren, einer weiteren Oase der Stille. Kein Check-in an der Bordsteinkante, keine mehrspurig parkenden Taxis, kein kosmopolitisches Gewühl. Als sie die Auffahrt umrundet hatten, hatte ein Flugzeug den Himmel überquert, aber jetzt wölbte sich dieser wieder leer und auch wolkenlos über ihnen. Vielleicht gehörte Maine insgeheim zu Kanada. Der Tag hatte den Küstennebel aufsteigen lassen und war wieder altweibersommerwarm geworden; wahrscheinlich waren sie drei Stunden nach Süden gefahren, von einer Klimazone in die nächste. Kaum zu glauben, dass er gestern im Meer geschwommen war. Nach einer Weile in der nördlichen Verwirrung war er in sein Alltagsleben zurückgekehrt, nur hatte er jetzt dieses Mädchen mitgeschleift. Ihr Gitarrenkoffer und der Schlafsack lehnten an seiner einsamen Reisetasche, waren auf einem Bordsteinstück gestrandet, wo nach Abfahrt des Zubringerbusses niemand aufpasste, wer oder was unbeaufsichtigt blieb. Sergius hatte Lydias Gitarre nicht einmal in die Hand genommen,weil sie nicht wissen sollte, dass er tausendmal besser spielte und im Vergleich zu ihr doch von einer ausgesuchten Stimmlosigkeit war, in jeder Hinsicht unterlegen.
    »Möchtest du das?«, fragte sie. Sie nahm seine Hand in ihre beiden, und dann schob sie sich abrupt – und nur ganz kurz – seinen Daumen in den Mund.
    »Äh, ja klar. Ich –«
    »Na ja, ich hab kein Ticket, und sowieso nerven Flugzeuge, ich fliege nie. Aber wenn du Lust hast, kann ich dich in Philadelphia ja mal besuchen kommen.«
    »Das fänd ich toll. Obwohl es nicht direkt in Philadelphia ist. Und meines Wissens gibt es bei uns auch keine Occupy-Lager.« Warum ging er eigentlich so automatisch in die Defensive? Sein feuchter Daumen fühlte sich in der frischen Luft kalt an. Sie hatten sich keine Worte für diesen Abschied aufgespart, der unausbleiblicher war als andere, in den Stein eines elektronischen Tickets eingeritzt. »Mensch«, sagte er, »wir könnten ja eins gründen!« Zu den vielen Unwahrheiten des Vorabends gehörte, dass
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher