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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
Autoren: Jonathan Lethem
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beraubt, sich von David Ianoletti zu verabschieden, leistete er Wiedergutmachung bei anderen Liebhabern. Davon gab es nicht viele, abgesehen von den Männern in den Lastern, die keine Namen hatten, denen er hätte nachgehen können – andererseits boten die Zeiten bei den Liebhabern seiner Liebhaber und seinen Freunden Sterbende in Hülle und Fülle, die er besuchen konnte. Nach einiger Zeit sagte sich Cicero, dass er damit aufhören musste. Bloß weil er ein Experte war, musste er das ja nicht zur Gewohnheit machen.
    Bei der Rückkehr von einer Konferenz besuchte Cicero Rose ein letztes Mal, ohne sich vorher anzukündigen; dirigierte das Taxi vom La Guardia aus dem Gedächtnis vom Grand Concourse zum Latimer und stellte seinen Rollkoffer bei den Schwestern am Empfang unter. Er hatte Rose ein druckfrisches Exemplar von Das Tal der Zermürbung mitgebracht und hoffte, es würde ihr etwas bedeuten, dass ihr kraushaariger Schützling unter die Autoren gegangen war. Buchmenschen und das alles. Jetzt gehörte er dazu.
    Ein Jahr zuvor hätte es ihr vielleicht noch etwas bedeutet. Er legte es ihr in die hühnerkralligen Hände und sie starrte es an wie der Affe Kubricks Monolithen.
    »Das hab ich geschrieben, Rose.«
    Sie existierte nur noch in der stahlharten Skepsis, die aus den zusammengekniffenen Augen ihre Todesstrahlen abschoss. Ihr Mund blieb fest geschlossen. Er war so lange weg gewesen, und sie war so weit über ihren Horizont hinausgesegelt, dass nicht sicher war, ob sie ihn überhaupt noch erkannte.
    Er zog ihr das Buch aus den Händen, drehte es um und zeigte ihr den Rückdeckel des großen Paperbacks. Verso Press druckte normalerweise keine Autorenfotos ab, aber Cicero wusste, dass das passartige Schwarzweißfoto einen Zweck erfüllte, den niemand auszusprechen gewagt hätte: Ohne dass es im Klappentext eigens erwähnt werden musste, machte es klar, dass es hier eine différance zu bestaunen gab, falls der Name des Autors jemandem noch nicht schwarz genug klang. Cicero hatte in einem Trenchcoat à la Jean-Paul Sartre und schmaler Krawatte vor einem Eugene-Kommissionsladen in der Innenstadt posiert. Durch die Reflektionen im Schaufenster hindurch war über seiner Schulter ein Nippes-Stillleben zu sehen, beherrscht von einer Schneiderbüste, kahl, aber mit Brüsten und abgewandtem Blick. Ciceros Dreadlocks wuchsen inzwischen, Seeschlangen, die noch in der Strömung trieben, noch nicht vom eigenen Gewicht nach unten gezogen wurden.
    »Schau mal«, sagte er. »Das hier bin ich.« Namen waren egal. Es reichte, wenn sie das Bild dem Mann an ihrem Bett zuordnete. Er merkte, dass ihm das mehr bedeutete, als er zugeben wollte. Er wollte sie beeindrucken.
    Rose spielte mit und schenkte ihm das bisschen Aufmerksamkeit, das sie noch übrig hatte. »Wer?«, fragte sie.
    »Ich. Das hab ich geschrieben. Du kannst es behalten.«
    Sie musterte das Foto, reimte sich vielleicht etwas zusammen. Dann tippte sie mit dem abscheulich langen Fingernagel auf die Schneiderbüste. »Wer?«
    »Ich.«
    Rose schüttelte den Kopf, schloss die Augen, atmete durch weit geöffnete Nasenlöcher tief ein, verärgert, weil sie nicht verstanden wurde.
    Schließlich gab sie sich etwas mehr Mühe, ihre Einwände gegen das zu formulieren, was ihr da vorgelegt worden war.
    »Warum sieht sie mir nicht in die Augen?«
    —
    Als er sein Gepäck abholte, sagte die Schwester: »Komisch. Ein Jahr lang keine Besucher, dann zwei in einer Woche.«
    »Es war noch jemand hier?«
    Die Schwester nickte. »Ihr Enkel, glaube ich, ein Jugendlicher. War mit einer Frau hier, die ist aber nicht mit reingegangen.«
    —
    Cicero war sein ganzes Leben lang dazu ausgebildet worden, den Mund aufzumachen. Rose darüber zu informieren, wie es ihm ergangen war, dem Geiselhäftling ihrer Fürsorge. Oder das Geständnis abzulegen, das der Häftling schuldig war, das Geständnis des begangenen Verbrechens, nachdem er seine gesamte Strafe abgesessen hatte. Als sein hilf loses Publikum, sein Häftling, würde sie sich nun selbst ausradieren, war nicht mehr zu verletzen. Cicero konnte sagen, was er wollte, es rutschte an der glitschigen Fassade ihrer Gegenwart ab. Beim nächsten Besuch war sie zu alten Kriegen zurückgekehrt. Aber Cicero hatte seine Stimme nicht gefunden, nährte den nächsten Dementolog nur mit sanften Nachfragen, bis die letzte Chance futsch war.
    Und eines Tages war sie das. Futsch.
    Jetzt, acht oder zehn Stunden, nachdem Sergius Gogan und das Mädchen auf den
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