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Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)

Titel: Der Garten der Dissidenten: Roman (German Edition)
Autoren: Jonathan Lethem
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auch keine der aus der tiefsten Provinz hereingeschneiten jungen Schwuchteln bitten, es ihm zu erklären. In diesem Sturm ging er schlicht und einfach nicht vor die Tür.
    Er fragte, ob er mal telefonieren könne, rief an und bekam eine Pflegerin an den Apparat, die er flüchtig kannte. Diesmal keine der karibischen Schwestern, sondern eine junge Schwarze aus der Nachbarschaft. Er sah sie als Mädchen, dabei war sie wahrscheinlich in seinem Alter. Mensch, wahrscheinlich war sie frisch an die Sunnyside High gekommen, als er im letzten Jahr gewesen war, hatte es seither für sich behalten, dass sie ihn wiedererkannt hatte, und wahrscheinlich, ging ihm jetzt auf, hatte sie, wenn sie sich bei seinen früheren Besuchen in der Latimer Care Facility über den Weg gelaufen waren, immer nach einer Gelegenheit Ausschau gehalten, der übertriebenen Schicklichkeit, mit der er auftrat, die Luft abzulassen. Als er diese Pflegerin bat, Rose zu erklären, dass er sie in diesem Sturm unmöglich besuchen könne, bellte sie nur ihr schwarzes Lachen in den Hörer. Glauben Sie vielleicht, sie erinnert sich, wenn Sie gestern angerufen haben? Das Telefon war nicht weit weg vom Gejohl und den Pfiffen in dem Raum,wo der Fernseher eine Supreme am Tag ihrer größten Tapferkeit zeigte, als wäre der Triumph der Diva als Übertragung für diese Insel aufmüpfiger Homosexueller gedacht gewesen, in deren Reich mit seiner Geheimsemiotik von Ethel Merman, Sydney und der Trading Post er ebensowenig Wurzeln geschlagen hatte wie in anderen Milieus, in die er sich eingeschlichen hatte. Das Mädchen bekam am Hörer bestimmt alles mit, und Cicero merkte, dass Diana Ross’ Stimme durch das Telefon verdoppelt wurde, und dann sagte die Pflegerin Sehen Sie das Konzert? Wir machen das nämlich, und ich würd jetzt echt gern zurück, Brother, und da fragte sich Cicero, ob die Geheimnisse und Inversionen seiner Identität je gelüftet werden würden, solange er einen Fuß in diese gottverdammte Stadt setzte.
    —
    Und dann fand er sich weitab dieser Welt und aller dieser Welten. Viele Dinge und Menschen hatten zu sterben begonnen, etliche in Wirklichkeit, manche nur in Ciceros Kopf. In der Zuflucht seines Fachgebiets konnte er sich einreden und manchmal sogar glauben, dass Sinn und Zweck seiner Arbeit war, das Verlorene festzuhalten und aufzuheben. Kritische Theorie war vielleicht nur ein anderer Begriff für Selektion, die Bergung dessen, was aus dem zum Himmel wachsenden Trümmerhaufen der Geschichte geborgen werden konnte. Cicero hatte sich wieder seiner ursprünglichen Vision angenähert, dem Elternhaus als einem Feldlazarett mit seiner Mutter als Bereitschaftsschwester. Nur war jetzt die ganze Welt das Lazarett, und er war die Krankenschwester.
    Zu der Zeit, als Ciceros Test in Oregon negativ ausfiel – und er sich wunderte, ob er wegen des Zufalls seiner Vorlieben oder wegen eines idiotischen Glücks von der Ansteckung verschont geblieben war –, erfuhr er, dass David Ianoletti gestorben war. Die Laster waren fort, aber vor ihrem Verschwinden hatte der Sensenmann unter ihren Stammgästen noch gnadenlose Ernte gehalten, und diese Welt warverschwunden wie eine Fata Morgana. Wer hätte sagen können, wieviele Gäste jener Party in der Pacific Street noch am Leben waren? Die Hälfte? Weniger? Die Blütezeit einer polymorphen Bourgeoisie war letztlich nur eine kurze Episode gewesen. Ihre damals unausstehlichen Ritualsongs hingen noch in der Luft, und Partymusikfetzen waberten über einer nicht schiffbaren Wasserfläche.
    Cicero mauserte sich zu einem sachkundigen Sterbebettbesucher. Als er sich um Rose kümmerte, hatte er gelernt, sich nützlich zu machen: vor allem sein verdammtes Ich durch die Tür zu wuchten, in die Krankenstation, das Sterbehospiz oder ein abgedunkeltes Schlafzimmer, und neben einem schwindenden Körper auszuharren. Die Hauptaufgabe war, kommen und vom Sterbenden nichts verlangen. Eine Krankenschwester bitten, später wiederzukommen, aber nie einen Arzt; ein Klinikhemd raffen, einen Körper auf der Toilette stützen, hinterher abwischen. Zwanghafte T-Zellen-Zählungen unterschieden sich eigentlich nicht groß von Roses Verstopfungstagebuch. Cicero hatte sich mit dem Geruch diverser Desinfektionsmittel abgefunden, die beim Eindringen einer Subkutanspritze in eine Ellenbogenbeuge oder den Handrücken zur Anwendung kamen, und beklagte sich nicht mehr über die Ockerflecken, die seine Arrow-Hemden dann manchmal davontrugen. Der Chance
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