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Der fremde Tote

Der fremde Tote

Titel: Der fremde Tote
Autoren: Agnes Jäggi
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Dinge werden wir mit Nikolaus zu klären haben. Danach wird er in unsere Gemeinschaft aufgenommen, ihm werden seine Pflichten und seine Rechte erklärt und ... – wisst ihr, das ist heute wirklich ein ungünstiger Zeitpunkt, um euch unsere Kultur und Lebensweise zu erklären. Kommt in ein paar Nächten wieder.“ Damit gab er uns die Hand und verabschiedete sich hastig.
    „Wir sehen uns!“, rief Korbi ihm begeistert nach.

5. Aaron
     

    Kurz vor Mitternacht lieferte ich Korbi vor seinem Theater ab und fuhr nach Hause. Unterwegs hatten wir nur wenig gesprochen. Korbi, eigentlich hiess er ja Jakob, aber diesen Namen mochte er nicht, hing seinen Gedanken nach, während ich, zwar ein wenig enttäuscht über den Verlauf des Abends auf dem Friedhof, sichtlich zufrieden darüber war, dass Korbi mir nun glauben musste. Schliesslich hatte er die Bekanntschaft eines Mannes gemacht, der seit mehr als zehn Jahren nicht mehr unter den Lebenden weilte – was eigentlich nicht ganz zutraf, da er ja offensichtlich quicklebendig war. Aber wie sollte man dieses Dasein denn sonst nennen? Eine verrückte, absurde Geschichte, in die ich da geraten war. Ach was, das ganze Getue auf unserem Planeten war doch grotesk. Weshalb sollten denn die Toten nicht leben, sein, existieren oder was auch immer. Was wissen wir denn schon? Wieder genehmigte ich mir eine ausgedehnte, wohltuende Dusche, trank eine heisse Schokolade und schmuste ein wenig mit meiner kleinen alten Frani. Sie hörte sich milde meinen Bericht über die sehr vitalen Toten auf unserem Dorffriedhof an und schlief dabei behaglich schnurrend ein.

    Am nächsten Morgen erwachte ich frisch und munter. Es war noch früher Vormittag, die Herbstsonne tauchte den Wald oben auf den Hügeln in ein weiches goldenes Licht. Verzückt stand ich am Küchenfenster und genoss den herrlichen Anblick aus der Ferne. Ich machte mir Kaffee, holte aus der Bäckerei im Erdgeschoss einen kleinen Butterzopf und frühstückte ausgiebig. Schnell überflog ich noch einmal den kleinen PR-Bericht für die neue Schmuck-Kollektion des jüdischen Juweliers Aaron. Seit mir der nette alte Mann vor zwei Jahren seinen putzigen VW Käfer, Baujahr 1955, mit den hübschen Brezelfenstern und der edlen Chromzierleiste praktisch geschenkt hatte, weil er seiner müden Augen wegen nicht mehr fahren mochte, verfasste ich hin und wieder Werbetexte für ihn, welche er in den gängigen Zeitungen drucken liess. Ein altmodisches Glöcklein bimmelte hell und freundlich, als ich Aarons kleines, aber feines Schmuckgeschäft betrat. Der Juwelier unterhielt sich gerade mit einer Stammkundin und als er mich sah, zwinkerte er mir freundlich zu. Schliesslich kam er mit ausgebreiteten Armen auf mich zu, küsste mich auf die Stirn. „Isst du auch genug, du bist ein wenig blass und dünn.“ So sprach Aaron immer mit mir. Wahrscheinlich war ich eine Art Tochterersatz für ihn, da seine Anna mit ihrem Mann in Russland lebte und er sie nur selten zu sehen bekam. Aarons Frau Sara war bereits vor vielen Jahren gestorben. „Es geht ihr gut“, pflegte Aaron zu sagen, wenn er hin und wieder von seiner Frau sprach. Seit meinen jüngsten Erlebnissen mit ’Dahingegangenen’ konnte ich ihm jetzt von Herzen darin zustimmen. Ich übergab Aaron seinen Text für die Zeitungen und wünschte ihm einen guten Tag.
    Am Abend lief bei Korbi eine Aufführung, die ich besuchen wollte. Also begab ich mich ins Stadtzentrum, wo meine Freundin Louise einen Frisörladen betrieb. Bei ihr muss ich mich nie anmelden, was mir bestens passt, denn Coiffeurbesuche mache ich am liebsten ganz spontan. Nach nur wenigen Minuten Warten auf einem der bequemen Besucherstühle, rief sie mich bereits zum Haarwaschen. Louise ist vierzig, geschieden und Mutter einer pubertierenden Tochter. „Ach, meine kleine Lisa hat wieder einen neuen Freund. Der stinkt noch schlimmer als sein Vorgänger“, vertraute mir die hübsche, ein wenig mollige Freundin an. Dann kicherte sie und sagte: „Gestern Abend habe ich ihm ein paar saubere neue Socken geschenkt. Der hat mich vielleicht angestarrt. Dafür hat Lisa heute beim Frühstück kein Wort mit mir gesprochen.“ Sie seufzte. „Ich bin froh, wenn sie in zwei Wochen in diese Sprachschule nach Paris geht. Dort herrschen ziemlich strenge Sitten, was ich Lisa natürlich nicht verklickert habe!“ Wir lachten beide, während sie meine schulterlangen Haare in Form brachte und sie in meinem Lieblingston rotviolett tönte. „Ist es ein
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