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Der fremde Tote

Der fremde Tote

Titel: Der fremde Tote
Autoren: Agnes Jäggi
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abzuwischen.
    „Was zum Kuckuck tust du da?“, keifte er verschreckt.
    „Nun hör mir mal zu, mein Lieber: Während Frau Altenburg dich wieder schminkt, trinken wir beide ein Glas roten Burgunder. Du meine Güte, wie viele brenzlige Situationen hast du auf der Strasse schon erlebt, Leute haben über dich gelacht, dich beschimpft und jetzt, wo dich ein Publikum sehnlichst auf der Bühne erwartet, willst du kneifen.“
    Ich redete, Henri trank seinen Wein und Frau Altenburg brachte Gesicht und Frisur des aufgeregten Akteurs derweil wieder in Ordnung. Nach dem zweiten Glas war Henri endlich bereit, sogar begierig darauf, sich auf die Bühne hinauszustürzen.
    „Nicht so hastig“, zügelte ich ihn. „Zuerst spielt Aaron seine Musik zu Ende, dann beginnt die Diva mit ihrem Monolog, und wenn schliesslich das kleine Liebespaar turtelt, dann stürmst du hinaus, bist gehörig geladen und sagst den beiden, was Sache ist!“
    Henri war einverstanden.
    Wir verliessen die Garderobe und beim Schliessen der Tür sah ich Frau Altenburg erschöpft im Sessel sitzen und an einem Glas Rotwein nippen. Na also, das wäre geschafft!
    Das bunt gemischte Publikum, bezaubert von Aarons Spiel am Flügel, klatschte wie verrückt Beifall. Die Diva machte ihrem Namen alle Ehre, wie sie so dastand im langen schmalen königsblauen Seidengewand und mit tragischer Stimme von der traurigen Liebe des einfachen Handwerkers zu dem Mündel eines hartherzigen Vormundes berichtete. Wieder Beifall als der Vorhang sich schloss. Das Liebespaar küsste sich zärtlich und besprach den Fluchtplan, als ein grimmig dreinblickender Henri drohend auf das Paar zustürmte: „Auseinander!", dröhnte er, „du widerwärtiger alter Säufer“ (nicht ganz passend und wohl auch nicht ganz richtig), doch Henri war in seinem Element. „Was erlaubst du dir, Nichtsnutz, mein unschuldiges Mündel (er schrie Bündel)...!“ Das Drama nahm seinen Lauf, am Ende siegte die Liebe trotz allem, und das Liebespaar fand sich unter einer zauberhaften Brücke in Paris wieder. Das Publikum bog sich vor Lachen. Henri war ein Schatz, kein grosser Schauspieler, aber einer, der unfreiwillig Leute zum Lachen bringen konnte. Eine herrliche Gabe und ein wunderbares Geschenk an die Menschheit!

    Beim anschliessenden Apéro – die feinen Häppchen samt Wein stammten aus dem Gasthof, wo Julie als Kellnerin arbeitete – widmete Henri sich ganz seinen Gästen, seinen Fans. Er platzte fast vor Stolz. Auch die Diva, Julie und Viktor wurden zu ihrer Leistung beglückwünscht.
    Nur Korbi schien nicht ganz bei der Sache zu sein, er wirkte irgendwie abwesend. „Was ist los mit dir? Der Abend war doch ein voller Erfolg!“
    „Es ist der Friedhof in deinem Dorf, die Leute dort, sie lassen mich nicht los. So etwas muss doch auf die Bühne!“, sagte er leidenschaftlich.
    Ich wusste nicht, wie das zu bewerkstelligen war und ob die toten Ernheimer damit überhaupt einverstanden wären.
    Korbi wischte meine Bedenken weg: „Sie müssen doch nicht selbst auf die Bühne. Ich muss einfach mehr wissen über ihren Alltag, ob sie essen, ob sie streiten, ob sie lieben, ob sie schlafen – einfach mehr wissen muss ich!“
    „Hast du der Diva und den anderen davon erzählt?“, wollte ich wissen.
    Er verneinte. „Noch nicht, aber das könnte ein phänomenales Bühnenstück abgeben.“
    Die heutige Vorstellung würde noch einige Tage auf dem Programm stehen. Und in zwei Tagen würden wir wieder den Friedhof aufsuchen. Bis dahin wäre auch der Neuankömmling in die Gemeinschaft integriert, und die Leute hätten Zeit, uns über ihren Alltag aufzuklären.
    „Aber wir müssen sie um Erlaubnis bitten, bevor wir über sie ein Stück schreiben“, ermahnte ich Korbi.

7. Der fremde Tote
     

    Korbi und ich waren unterwegs nach Ernheim. Es hatte den ganzen Tag über geregnet, die Strasse war nass, und ich fuhr sehr vorsichtig. Zwar verfügt mein schöner Käfer über eine robuste Natur, nie hat er mich bisher im Stich gelassen, doch bei Aquaplaning ist Vorsicht geboten, denn über gute Bodenhaftung verfügt mein Schmuckstück nicht. Korbi plapperte ununterbrochen während der Fahrt. Für ihn stand das grossartige Bühnenwerk bereits bis ins Detail fest. Ich liess ihn reden, konzentrierte mich stattdessen ganz auf die Strasse und die Lichter der anderen Wagen, welche so spät noch unterwegs waren. Es war kurz vor Mitternacht, als wir bei der alten Fabrik eintrafen.
    „Mann, was für ein Schuppen“, murmelte Korbi,
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