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Der fremde Tote

Der fremde Tote

Titel: Der fremde Tote
Autoren: Agnes Jäggi
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Es könnte doch sein, dass er für Feigheit oder Einsamkeit steht?

    Aber zurück zum Friedhof. Sie glauben nicht, dass es für Tote auf Friedhöfen Regeln gibt? Da irren Sie sich, und zwar ganz gewaltig.

    Dieser friedlich anmutende Garten der Toten beherbergt ganz normale Menschen, die ihr Leben gelebt, ihre Pflichten erfüllt haben und schliesslich in Würde hier begraben wurden. Und dann liegen hier noch wirkliche Verbrecher, die Leben zerstört haben, Mörder, Vergewaltiger und dergleichen. Wie büssen wohl solche Leute nach ihrem Tod? Das interessierte mich schon ziemlich. In meinen Gruselgeschichten nämlich, da werden die Seelen von Verbrechern meistens von ihren einstigen Opfern gequält bis in alle Ewigkeit. Das klingt nicht schön, sondern viel zu einfach. Ausserdem wird damit nicht im Geringsten erklärt, weshalb Menschen andere Menschen oder Tiere quälen, ja gar töten.
    Aber bis dahin wusste ich es nicht besser; ausserdem schien diese Art der Bestrafung logisch: Wenn dich jemand quält, dann räche dich an ihm! Ich wurde glücklicherweise eines Besseren belehrt.

    Der Ernheimer Friedhof beherbergt übrigens auch einige Leute, die ich gut gekannt habe. Meinen Pflegevater zum Beispiel. Ich habe ihn sehr geliebt. Sein Tod, oder vielmehr sein langes trauriges Sterben, schmerzt noch immer; obwohl eine Stimme tief in mir drin mir schon früh – direkt nach Papas Tod – versicherte, dass er es so gewünscht hatte. Er war ein sensibler, von vielen schmerzhaften Krankheiten gequälter Mensch gewesen. Manchmal träume ich von ihm. Dann wirkt er stets gelassen, von einem stillen Glück erfüllt. Er kann wieder sehen und Krippen, kleine Puppenhäuser und wunderschön verzierte hölzerne Blumentröge anfertigen. Der konzentrierte Ausdruck in seinem fein gemeisselten Gesicht beruhigt mich stets in diesen freundlichen Träumen. Auch seine Eltern, also die Grosseltern, liegen hier begraben. Sie erscheinen mir jedoch nie im Traum. Dennoch denke ich hin und wieder an sie. Er, ein netter ruhiger weisshaariger Mann, beinahe gehörlos, mit einem verschmitzten trockenen Humor. Sie, resolut, fast bösartig, doch herzlich, wenn es die Situation erforderte. Eigentlich hatte ich mich immer ein wenig vor ihr gefürchtet, ausser in ihrer letzten Zeit, da wurde ihre Gestalt so klein und dünn wie ihre Stimme. Manchmal war sie ziemlich verwirrt und wähnte sich als junges Mädchen, das noch im Basler Nobelhotel ’Zum vollen Mond’ das Silber in der Küche polierte. Und dann ist da natürlich noch Raoul, meine erste Liebe aus Kindheitstagen.

2. Überraschende Begegnung
     

    Es war ungefähr der dritte Besuch im nächtlichen Ernheim, als ich unverhofft auf eine Gestalt traf, die sich wie ich dem Friedhof näherte. Ich versteckte mich hinter einem alten Apfelbaum und fragte mich, was diese alte Frau, nur mit einem Nachthemd bekleidet, zu so später Stunde auf dem Friedhof zu suchen hatte? Wahrscheinlich litt sie an Demenz und war ihrer Familie entwischt. Dann dauerte es wohl auch nicht mehr lange, bis nach ihr gesucht würde. Ich entschied mich eben zum Rückzug, als die Gestalt, die Hand bereits am schmiedeeisernen Griff der Friedhofstür, blitzschnell ihren Kopf in meine Richtung drehte. Ich stand wie erstarrt. Sie hatte mich gesehen, so deutlich wie auch ich sie sehen konnte. Das feine alte Gesicht unter schneeweissen flaumigen Locken, die sich sanft im Wind wiegten. Die Frau trug ein himmelblaues langes Kleid mit weiten Ärmeln, an ihrem Handgelenk baumelte ein mit goldenen Tränen besetztes silbernes Armband. Zwei etwas grössere Silbertränen schmückten ihre Ohren. Vor Schreck hielt ich den Atem an, denn obwohl ringsum schwarze Nacht herrschte, erkannte ich jedes Detail der Gestalt. Ihre Füsse waren in weich schimmernde Mokassins gehüllt. Nein, nicht nur die Füsse schimmerten in diesem sanften silbernen Licht, die ganze Frau war davon umgeben.
    „Na, du, besuchst du uns mal wieder?“ Ihre Stimme klang weich und lullte mich ein. Die Angst war wie fortgeblasen, nur sprechen konnte ich nicht. Sie lachte leise und winkte mich zu sich. „Hab keine Angst! Wir wissen von dir. Du kommst her, um mit deiner vermeintlich so trostlosen Kindheit abzurechnen. Du hast dieses Dorf nie gemocht. Weißt du, das passiert oft mit Pflanzen, die entwurzelt werden. Du kamst aus dem Kinderheim. Doch die Familie, die dich aufgenommen hatte, liebte dich von ganzem Herzen, du hast es aber nie zulassen wollen. Dir fehlte wohl das Vertrauen,
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