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Der fremde Tote

Der fremde Tote

Titel: Der fremde Tote
Autoren: Agnes Jäggi
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ähnlich, immer verkriechen, immer verstecken, das eigene kleine Paradies besitzen. Du, deine kleine Bude und deine Frani.“
    „Und mein Computer natürlich“, lachte ich zurück. Ich zeigte ihm auch das alte verlotterte Bauernhaus am Rain. „Hier haben Geister ihr Unwesen getrieben“, vertraute ich Korbi kichernd an. „Jedenfalls musste jeder, der in unsere Clique aufgenommen werden wollte, bei Einbruch der Nacht zu diesem Haus schleichen und eine Weile drin bleiben. Sein letzter Bewohner hat sich da drin erhängt.“
    „Du meine Güte, das ist ja gruselig. Kein Wunder, dass du diese verdrehten Geschichten schreibst.“ Korbi schüttelte sich.
    Ich weiss nicht, ob der Umstand, dass ich nicht allein vor dem kleinen, in den Hügel geduckten Haus stand, oder die Tatsache, dass ich erwachsen geworden war und somit die Tragödie des einsamen alten Mannes besser verstehen konnte, mich plötzlich traurig stimmte. Von Gruseln jedenfalls keine Spur mehr, obwohl es bereits dämmrig wurde.
    „Es sieht eher ängstlich aus, dieses kleine Haus“, stellte Korbi fest.
    „Ja, traurig und ängstlich“, stimmte ich ihm zu.
    Vor dem weissen klotzigen Gemeindehaus blieb ich wieder stehen und zeigte auf die breite tiefrote Eingangstür: „Hier habe ich nach der Schule meine Lehre gemacht. Du kannst dir nicht vorstellen, was für Schätze da drin sind!“ Damit meinte ich die modrigen alten Jahrbücher, wo Gerichtsfälle, dunkle Familiengeheimnisse, Todesfälle, Geburten, Auswanderungen, Trauungen usw. fein säuberlich von Hand eingetragen worden waren, über Jahrhunderte hinweg. Im Archiv befanden sich Bücher, die mehrere Hundert Jahre alt waren.
    „Jetzt weiss ich endlich, woher du dieses schrecklich Morbide hast“, neckte Korbi mich.
    „Bisher warst du damit ganz zufrieden“, konterte ich vergnügt. „Mit solch ’morbiden’ Geschichten hast du schon so manche Abende dein Theater gefüllt.“
    Es war nun einmal eine Tatsache: Mich faszinierte die Vergangenheit, das Vergängliche überhaupt. Was war schlimm daran? Alle sind sterblich und alles ist vergänglich. Wir alle sind nicht mehr als ein Fliegendreck auf der Karte der Zeit.

    Es war schliesslich nach neun, als wir den Friedhof endlich betraten. Korbi kramte eine Taschenlampe aus seiner Tasche und richtete den starken Strahl direkt auf das mächtige stark verwitterte Marmorkreuz. Auf der Bank sass diesmal niemand. Gemeinsam schlenderten wir durch die gepflegten Gräberreihen. Der Friedhof war durch fein säuberlich gerichtete niedrige Gebüsche in vier kleine Gärten aufgeteilt: Die Urnengräber, die Gräber von Erdbestattungen sowie die Familien- und die Kindergräber.
    „Meinst du, die schlafen tatsächlich unter der Erde?“
    Nach kurzer Überlegung verneinte ich. „Ich denke eher, dass die sich einfach auflösen, wenn sie ruhen möchten. Die Grabsteine sind wohl vor allem für die noch lebenden Angehörigen gedacht. Sie stehen vor den Gräbern ihrer Toten, damit sie nicht einfach irgendwo auf dem Friedhof herumstehen“, erklärte ich ziemlich ungeschickt, was Korbi zum Kichern veranlasste.
    „Du meinst also, sie werden unsichtbar?“, fragte Korbi.
    „Ganz richtig, mein junger Freund!“, dröhnte Robert Sanders Stimme direkt vor uns durch die Nacht, „Eigentlich sind wir sowieso körperlos, aber für unsere wenigen lebenden Freunde nehmen wir der Höflichkeit halber und des besseren Verständnisses wegen Gestalt an.“
    Korbi liess vor Schreck die Taschenlampe fallen und stand steif wie ein Brett da, während in einem sanften silbrigen Licht der alte Amtmann langsam sichtbar wurde.
     „Wo sind die anderen?“, fragte ich mit zittriger Stimme, denn auch ich war vom plötzlichen Auftauchen des Geistes überrumpelt worden.
    „Wir halten eine Versammlung ab. Der Nikolaus Meinder ist heute gestorben. Bald wird er sich zu uns gesellen. Wir bereiten seine Ankunft vor“, antwortete Robert Sander.
    Korbi, der sich einigermassen gefasst hatte, wollte wissen, um welche Vorbereitungen es sich denn dabei handelte?
    „Er war ein Gauner, aber ein liebenswerter. Diejenigen von uns, welchen er Schaden zugefügt hatte zu Lebzeiten, werden ein ernstes Wörtchen mit ihm reden. Auch ich habe übrigens noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen. Als junger Kerl hat er sich aus der Schützenkasse bedient, um sich in einem Club in der Stadt eine Nacht lang zu vergnügen. Ich konnte ihm die Sache damals nicht nachweisen, aber ich bin sicher, er hat es getan. Diese und andere
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