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Der fremde Tote

Der fremde Tote

Titel: Der fremde Tote
Autoren: Agnes Jäggi
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sie nun waren, die würden Korbis Neugier über alle Massen befriedigen – nicht nur was alte Familiengeheimnisse und dergleichen betraf. Diesmal parkte ich den Wagen nicht bei der alten Fabrik, sondern wir rollten durch die menschenleere Bahnhofstrasse (sie hiess immer noch so, obwohl die Station schon vor Jahren geschlossen worden war) hinunter zum Dorfkern, wo sich das grösste Gasthaus des Dorfes befand und wo wir als ’Fremde’ nicht besonders auffallen würden. Immer wieder reisten Touristen durch diesen hübschen alten Ort und kehrten im Gasthaus ’Zum kleinen Ackergaul’ ein. Der Ernheimer Dorfplatz wird dominiert von besagtem Restaurant, der Landwirtschaftlichen Genossenschaft, dem Lebensmittelgeschäft, dem neuen Postgebäude und der Raiffeisenbank. Hoch über dem Platz mit dem breiten alten Springbrunnen thront die für hiesige Verhältnisse stattliche Gemeindekanzlei und darüber die mächtige weisse Kirche, welche für ein katholisches Gotteshaus merkwürdig schmucklos wirkt.

    Korbi schälte seine schlaksige lange Gestalt aus dem Käfer, streckte sich und sog genussvoll die würzige herbstliche Landluft ein. „Schön ist es hier und so ruhig!“ Vor dem Lebensmittelgeschäft standen einige Dorfbewohnerinnen plaudernd beisammen; die Glocken der Kirche schlugen viermal. Es war also 16 Uhr. Ein prächtiger herbstlicher Nachmittag mitten auf dem Land.
    Ich fühlte mich wieder wie das Mädchen, das ich einst war. Ein Mädchen, das mit seinen Freundinnen verstohlen in den Laden schlich, um Süssigkeiten zu kaufen. Ängstlich darauf bedacht, dass nicht etwa eine der Mütter plötzlich auftauchte. Ich sah plötzlich Raoul vor mir, meinen ersten Schulschatz, der so hinreissend zeichnen konnte und der im Zeichenunterricht auch meine Bilder malte, damit ich meiner Unfähigkeit wegen nicht ausgelacht wurde. In Zeichnen war und bin ich nämlich ganz schlecht. Raoul war mein stolzer Indianer, ich seine ihm ergebene Squaw. Ob ich ihm auf dem Friedhof auch begegnen würde?

    „Woran denkst du?“, erkundigte Korbi sich, „Du bist so still und machst ein Gesicht, als hättest du in eine Zitrone gebissen.“ Ganz der liebe, feinfühlige Korbi.
    „Ach, ich fragte mich nur gerade, ob die Toten tatsächlich noch einen Körper besitzen?“
    „Du hast die Frauen und den Mann doch sehen können; ihr habt euch doch sogar umarmt, wenn ich mich recht erinnere?“
    Das stimmte allerdings. Nur, ich konnte es nicht recht in Worte fassen. „Korbi, manchmal, wenn man träumt, dann unterhält man sich doch mit Menschen, die man kennt. Wenn du aber aufwachst, dann weißt du, dass diese Leute überhaupt nicht denen gleichen, welchen du im Traum begegnet bist – äusserlich meine ich. Sie hatten im Traum zum Beispiel ein ganz anderes Gesicht, trotzdem wusstest du, es war genau diese Freundin oder dieser Freund, dein Vater oder deine Schwester – wie auch immer.“ Ich schwieg, wusste nicht mehr weiter.
    Korbi begriff. „Du meinst, dieser Amtmann, Robert sowieso, oder deine ehemalige Nachbarin, Mathilde, die Schneiderin, die sahen nicht so aus wie die realen Menschen, die du einst gekannt hast?“
    „Ganz genau, und trotzdem wusste ich, ausser bei Eva, die habe ich nie vor ihrem Tod gesehen, dass die beiden anderen Robert Sander und Mathilde Neuling waren. Bei beiden habe ich zwar etwas Vertrautes wieder erkannt – Roberts tiefe Stimme, der weisse Bart und Mathildes grosse schwarze Augen.“
    „Tja, da müssen wir diese Leutchen halt fragen, falls wir sie antreffen“, meinte Korbi lächelnd. Er schien mir noch immer nicht ganz zu glauben.

    Auf dem langen Spaziergang durch mein Heimatdorf zeigte ich Korbi mein ehemaliges Elternhaus, in dem inzwischen Fremde wohnten. Nachdem mein Vater gestorben war, zog meine Mutter zu Freunden, weil ihr das Haus zu gross geworden war. Meine anderen Geschwister lebten weit verstreut über den ganzen Erdball, wir sahen uns nur noch selten, hielten aber telefonischen Kontakt. Meine Mutter, die inzwischen einen netten Freund gefunden hat, besuchte ich hin und wieder.

    „Sieh mal, dieses Haus in der kleinen Gasse, dort lebten zwei Schwestern ganz für sich allein. Sie sind sehr alt geworden. Als Kind ging ich zu ihnen, wenn wir Trauerkarten brauchten. Die Schwestern Maria und Rose vertrieben wunderschöne Karten mit aufgedruckten Versen und Gedichten bekannter Autoren. Ich habe die beiden immer etwas beneidet. Sie hatten ihre eigene Welt und einander.“
    Korbi lächelte: „Das sieht dir
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