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Der fremde Tote

Der fremde Tote

Titel: Der fremde Tote
Autoren: Agnes Jäggi
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Urvertrauen nennt man das. Du bist wie ein Zweiglein von diesem Apfelbaum, das man abgeschnitten und in eine Vase gesteckt hat. Ohne Wasser und Erde verdorrt jede Pflanze. Also gräme dich nicht länger. Du brauchst Liebe, dafür musst du aber auch Liebe geben.“
    Ich lauschte ihren Worten, und mir wurde plötzlich ganz leicht ums Herz.
    „Nun, komm schon, ich stelle dir unser kleines Reich vor!“, drängte die Frau.
    Ich näherte mich ihr langsam. Erst einmal setzten wir uns auf die kleine Holzbank unter dem mächtigen Jesuskreuz.
    Frau Halme, so hiess die Dame, war nur wenige Wochen nachdem ich als kleines Mädchen ins Dorf gekommen war, gestorben. „Keiner wusste, wer deine Eltern waren, und die meisten im Ort sagten einfach, du wärst ein Geschenk des Himmels“, erzählte die Frau. „Natürlich gab es anfangs auch welche, die die Nase rümpften und über deine Herkunft spekulierten, aus Langeweile, aus Gehässigkeit, was weiss ich. Aber glaube mir“ – und damit nahm Frau Halme mein Gesicht in ihre Hände, so dass ich direkt in ihre herrlichen grüngoldenen Augen blicken konnte – „deine neuen Eltern liebten dich, und für die übrigen Dorfbewohner warst du ganz einfach ein Kind wie jedes andere auch.“
    Wir sprachen noch eine Weile über Gefühle, die sich beim Angenommensein oder bei Nichtakzeptanz entwickeln können, woher solche Empfindungen wohl stammen mochten und kamen zu dem Schluss, dass diese Fragen wohl nie schlüssig beantwortet werden konnten, jedoch viel mit dem eigenen Selbstwertgefühl zu tun hatten.
    „Du musst dich akzeptieren so wie du nun einmal bist“, meinte Frau Halme noch.

    „Ach, nein, endlich ist sie da, unsere stille nächtliche Besucherin!“, erklang auf einmal eine Stimme neben mir. Ich zuckte zusammen, doch da umfingen mich schon weiche nach Lavendel duftende Arme, und ein kugelrundes Gesicht, umrahmt von braunen dicken Locken, streckte sich mir entgegen. Grosse schwarze Augen blickten mich neugierig an. „Ah, die kleine Amanda! – Habe ich es dir nicht gesagt, Eva?“, wandte sie sich triumphierend an Frau Halme. „Sie ist es wirklich, wie schön! Aber warum kommst du immer nachts hierher? Die meisten Menschen fürchten sich davor, im Dunkeln auf den Friedhof zu gehen; weil sie denken, wir spuken hier herum, erschrecken die armen unwissenden Lebenden.“ Munter plapperte die Frau, die mir seltsam bekannt vorkam, weiter, bis Frau Eva Halme sie unterbrach: „Wo sind nur deine Manieren geblieben, liebe Mathilde?! Amanda wird sich wohl kaum an dich erinnern!“ Und während Eva mich mit Mathilde Neuling bekannt machte, erkannte ich in ihr endlich unsere einstige Nachbarin, die Schneiderin, welche im Auftrag meiner Mutter etliche entzückende Kleider und Hosen für mich und meine Schwestern genäht hatte. Sie musste nun so ungefähr seit 25 Jahren tot sein. Ich erinnerte mich, wie meine Mutter mich damals anrief und mich fragte, ob ich zur Beerdigung käme. Ich war nicht hingegangen. Jetzt war mir das schrecklich peinlich, was ich Mathilde auch sagte. „Ach was, Beerdigungen sind so furchtbar traurig und öde – ganz im Gegensatz zum Todsein!“ Bei diesen letzten Worten kicherten Eva und Mathilde wie kleine Mädchen.

    Ich muss total verrückt sein, dachte ich bei mir, sitze mitten in der Nacht auf dem Friedhof und plausche mit zwei Toten herum. Was für ein absonderlicher Traum. Aber ich wollte noch nicht aufwachen. Das hier würde eine ganz ausgezeichnete Geschichte abgeben.
    „Vergiss es!“, dröhnte eine weitere, mir altvertraute Stimme durch die Nacht. Und aus einer der Grabreihen trat eine schmale hohe Gestalt mit weissem langem Bart.
    „Amanda, du träumst nicht. Wie du siehst, leben wir hier wie ganz gewöhnliche Tote. Wir haben unsere Freuden und unsere Sorgen. Das einzig Verrückte ist wohl, dass du als noch junge Frau dich den Toten statt den Lebenden zuwendest. Und erst deine abstrusen Geschichten über Geister, Untote und überhaupt das Leben danach! Was ist bloss mit dir los? Was ist aus dir geworden? Na, wenn ich ehrlich bin, habe ich mir vorher diese Sache mit dem Leben danach auch etwas anders vorgestellt.“ Er lachte.
    Ihn brauchten mir die Frauen nicht vorzustellen. Ich hatte nach der Schule die Lehre bei der Gemeinde gemacht, und vor mir stand der damalige Gemeindeammann Robert Sander. Ich hatte ihn überaus gemocht, auch wenn er manchmal sehr ruppig sein konnte, besonders wenn es um ein Projekt ging, das ihm am Herzen lag, oder wenn er mir
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