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Der fremde Tote

Der fremde Tote

Titel: Der fremde Tote
Autoren: Agnes Jäggi
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um drei Uhr morgens, was mir einige ärgerliche Klopflaute an der Wand einbrachte. Dann goss ich Kaffee auf und starrte mit der Tasse in der Hand aus dem Fenster. Frani, meine alte Katzendame, kuschelte sich auf meinen Schoss. Ich empfand eine eigenartige Mischung aus Frieden und Aufregung. Was war mir da nur widerfahren? Bereits um acht Uhr (eine reife Leistung für mich) verliess ich die Wohnung, rannte zu meinem VW und raste durch die verstopfte Stadt hinaus zu Korbis Theater. Ein grosses buntes Schild über dem breiten Eingangstor der ehemaligen Schmiede verkündete den Namen des Etablissement ’Korbis Träume’. Ich rannte um das gedrungene Gebäude herum, stürmte die brüchige Holztreppe hinauf und klopfte an Korbis Wohnungstür. Es dauerte eine Weile, bis sich sein zerzaustes, verschlafenes Gesicht am Fenster neben der Tür zeigte. Dann schloss er auf und liess mich seufzend rein. Ich gab ihm keine Gelegenheit, seinen Unmut über die frühe Störung in Worte zu fassen, packte ihn am Arm und zog ihn in die chaotisch-heimelige Küche. Während er sich auf die breite Bank am runden Holztisch setzte und ausgiebig gähnte, stellte ich den Herd an, füllte den Wasserkessel und löffelte Kaffeepulver in den Filter. „Da drüben liegt noch ein Laib Brot“, nuschelte Korbi. Im Kühlschrank fand ich Butter, Käse und Erdbeermarmelade. Bald duftete die Küche nach frischem Kaffee und durchs Fenster lachte die Morgensonne. Es würde ein herrlicher Herbsttag werden. Korbi strich sich schweigend ein Marmeladenbrot, während ich meinen heissen Kaffee schlürfte. „Ich habe dir doch erzählt, dass ich seit kurzem nächtliche Ausflüge in das Dorf mache, aus dem ich stamme?“, plapperte ich los. Korbi nickte und während er an seinem Kaffee nippte, platzte ich damit heraus: „Ich war auf dem Friedhof und hab mit einigen Toten geredet!“
    Korbi grinste, stellte die Tasse vorsichtshalber ab und sagte: „Ach was! Das ist ja ganz was Neues. Tust du das denn nicht andauernd?“
    „Korbi, ich meine es ernst! Die Leute dort, die sind nicht tot, ich meine, sie sind schon gestorben, aber sie leben trotzdem – irgendwie.“ Ich brach einigermassen ratlos ab.
    Korbi betrachtete mich neugierig. „Du hast doch wohl nicht so früh schon getrunken?“
    „Hör zu, Korbi! Ich weiss, das alles klingt völlig absurd, aber...“ -
    Ich brauchte etwa eine halbe Stunde, bis ich meinem Freund die ganze Geschichte erzählt hatte. Danach schwiegen wir beide eine geraume Weile, tranken Kaffee und verspeisten beinahe den ganzen Brotlaib.

    „Ich will dieses Dorf sehen. Diesen Friedhof und diese lebendigen Toten", meinte Korbi schliesslich. „Hast du Zeit?“ Und ob ich die hatte. Ich war mir nur nicht sicher, ob wir tagsüber oder in der Nacht hinfahren sollten. Korbi entschied sich für einen Besuch am Tag. „Wenn sie nicht auftauchen, dann warten wir eben, bis es dunkel wird!“, entschied er. Wir vereinbarten, dass ich ihn am frühen Nachmittag abholen würde. Am Montag war das Theater geschlossen, und die Truppe konnte auch ohne Korbi proben.
    Ich lieferte noch drei kleine Erzählungen beim Thor-Verlag ab, nachdem ich einen annehmbaren Preis dafür ausgehandelt hatte. Danach kaufte ich einige Dosen Katzenfutter für meine Frani ein. Um 15 Uhr fuhren Korbi und ich los.

4. Vorbreitungen für einen Neuankömmling
     

    „Das Dorf ist vor etwa 600 Jahren erstmals geschichtlich erwähnt worden. Ernheim gehörte damals einem Kloster, die meisten Bewohner sind Bauern gewesen. Einige Bauern gibt es auch heute noch. Die meisten Einwohner arbeiten derzeit jedoch ausserhalb der Gemeinde“, klärte ich Korbi unterwegs über mein Dorf auf. „Es ist ein Pendlerdorf geworden, ein wenig Industrie, eine grosse Baumschule, eine Garage, einige Restaurants, ein Lebensmittelgeschäft. Die Leute wohnen schon seit vielen Generationen in diesem Dorf, das herrlich eingesäumt von Feldern und Wäldern mitten in einem Tal liegt.“
    „Klingt sehr idyllisch“, meinte Korbi.
    „Ja, vielleicht. Die Leute sind recht nett, doch wenn einer neu zuzieht, dann bleibt er mindestens fünfzig Jahre ’der von ausserhalb’.“
    „Da gäbe es viele Geschichten zu hören“, sagte Korbi verträumt. „Du weißt schon, alte Familiengeheimnisse, Leichen im Keller und solche Dinge.“
    Ich widersprach meinem Freund nicht, sondern hoffte inbrünstig darauf, dass ich die Sache von letzter Nacht nicht doch geträumt hatte. Diese Toten oder Lebendigen oder was auch immer
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