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Das Verschwinden der Frauen: Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen (German Edition)

Das Verschwinden der Frauen: Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen (German Edition)

Titel: Das Verschwinden der Frauen: Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen (German Edition)
Autoren: Mara Hvistendahl
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ZWEITES KAPITEL
    Der Elternteil
    Geld kostet oft zu viel.
    Ralph Waldo Emerson
    Der Kreis Suining im Norden der Provinz Jiangsu liegt auf halbem Weg zwischen Shanghai und Beijing im Tal des Huai-Flusses, der landwirtschaftlich genutzten Ebene, die so etwas wie Chinas Herzland ist. Jahrhundertelang war er ein Gebiet gewesen, an dem das einzig Bemerkenswerte seine Durchschnittlichkeit war. Die Bewohner von Suining essen gern ein bisschen scharf, ein bisschen salzig, ein bisschen süß. Sie sprechen einen Dialekt, der dem Mandarin nahe steht und der von den meisten Chinesen verstanden wird. Die größte Berühmtheit, die der Landstrich hervorbrachte, war der Han-Kaiser Gaozu, der von 202 bis 195 vor Christus regierte, und sogar der war schlichter bäuerlicher Herkunft. Heute freilich ist Suining Entwicklungsgebiet – und es entwickelt sich schnell. Wer die Berichte über den chinesischen Wirtschaftsboom kennt, ist im Bilde über die skurrilen Wolkenkratzer in Shanghai, über die Milliarden, die für die Olympischen Spiele 2008 in Beijing geflossen sind, über die Luxuseinkaufsmeilen, Luxusautohäuser und Yachtclubs in den führenden Großstädten des Landes. In vieler Hinsicht macht sich der wirtschaftliche Aufschwung jedoch deutlicher bemerkbar an Orten wie Suining, wo die Veränderungen, die er bewirkt, heftiger in Erscheinung treten und einen viel größeren Einfluss auf die Psyche und das Leben der Einheimischen ausüben.
    Der Wirtschaftsboom à la Suining begann in den 1990er Jahren, als Bewohner den Nachtbus nach Shanghai und zu den reichen Städten in der Umgebung der Metropole bestiegen und dort Beschäftigung fanden – sei es, dass sie beim Bau von Wolkenkratzernmitarbeiteten, in Fabriken malochten oder den Babys chinesischer Neureicher die Windeln wechselten. Ein paar Gehaltsschecks später begannen sie, Geld heimzuschicken, Tausende telegrafische Überweisungen, allesamt an die Landwirtschaftsbank Suining. Die Städte und Dörfer in Suining dehnten sich in alle Richtungen gleichzeitig aus. Der Hauptort des Kreises – eine etliche Hundert oder Tausend Einwohner zählende Siedlung, die ebenfalls Suining hieß – war jahrelang der Ort gewesen, wo die Bauern, die die umliegenden Weizen- und Reisfelder bestellten, ihre Ernte verkauften und für ihren Bedarf einkauften. Nun wuchsen seinem kümmerlichen Straßennetz am Außenrand immer mehr und immer größere Gevierte zu. Mit Dachpagoden, römischen Säulen und ballonkaugummirosa Fassaden aufgebrezelte hohe Wohnsilos schossen wie Pilze aus dem Boden und summierten sich zu ganzen Häuserblocks. Die größeren Wohnsiedlungen boten Tausenden Bewohnern Unterkunft. Mit Feuerwerk und dem feierlichen Durchschneiden eines Bandes wurden Supermärkte eröffnet, wo man ebenso Uhren und Schmuck wie Gemüse und Reis kaufen konnte, und plötzlich schien es so, als ob sich in jedem zweiten Geschäftslokal ein Immobilienmakler niedergelassen hätte. Auf Reklametafeln tauchte Werbung für Lebensversicherungen – eine zuvor jedermann ganz fremde Sache – auf. Jahrzehntelang war das einzige Hotel am Platze eine staatseigene Einrichtung namens »Der Osten ist rot« gewesen. Dem erwuchs jetzt Konkurrenz im »Hotel International Suining« und im »Hotel US-Amerikanisch-Chinesische Freundschaft«. Ein cleverer Unternehmer wiederum eröffnete in der Hoffnung auf einen profitträchtigen neuen Markt den Haushaltsgerätehandel »Der Osten ist rot«. 1
    Am Ortsrand siedelte sich Industrie an, zuerst nur Kleinbetriebe in chinesischer Hand, die aber für Suining große Veränderungen mit sich brachten. Die Firma »Suininger Fleischwaren« errichtete einen kastenförmigen braunen Bau und säte ringsum Gras ein, mit dem Ergebnis, dass sie mitten in einer riesigen giftgrünen Rasenfläche lag. Dann kam chemische Industrie hinzu und überzog den Landstrich mit einem dauerhaften, aber kaum merklichen Smogteppich, dessen Existenz die Suininger nach einiger Zeit nurmehr dann bemerkten, wennsie wieder frei atmen konnten, sobald sie sich einmal über die Kreisgrenze hinausbewegten. Die Suininger Weizen- und Reisfelder blieben erhalten, aber die Fabriken benötigten befestigte Straßen, sodass die Regierung die Feldwege, die den Bauern als Verkehrsanbindung an den Ort einst gereicht hatten, asphaltieren ließ. Das Straßennetz war noch mal ein Stück gewachsen.
    Von dem Boom wurden just diejenigen förmlich überrollt, die ihn in Gang gesetzt hatten. Wenn die Wanderarbeiter von ihrem Aufenthalt in
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