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Stadt des Schweigens

Stadt des Schweigens

Titel: Stadt des Schweigens
Autoren: Margret Krätzig Erica Spindler
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PROLOG
    Cypress Springs, Louisiana,
    Donnerstag, 17. Oktober 2002,
    3 Uhr 30, morgens.
    Der, den sie Vollstrecker nannten, wartete geduldig. Die Frau würde bald kommen, das wusste er. Er hatte sie beobachtet, hatte ihren Tagesablauf und ihre Gewohnheiten ausgekundschaftet. Und die der Nachbarn natürlich auch.
    Heute Nacht würde sie den Preis für Unmoral kennenlernen.
    Sein Blick wanderte über das abgedunkelte Schlafzimmer. Auf dem Flechtteppich lag überall Kleidung verstreut herum. Die Kommode verunzierte ein Sortiment an Kosmetiktiegeln und Fläschchen, leeren Diätcola- und Miller Lite-Dosen sowie Kaugummi- und Schokoriegelpapieren. Aus dem überquellenden Aschenbecher fielen bereits die Zigarettenkippen.
    Hure und auch noch Schlampe.
    Resignation und Ekel erfüllten ihn. Dass heutzutage nur noch wenige bis zur Hochzeit mit der körperlichen Liebe warteten, damit konnte er leben. Er hatte Verständnis für körperliches Verlangen.
    Aber Exzesse, wie diese Frau sie trieb, wurden in Cypress Springs nicht geduldet. Die Sieben hatten abgestimmt – das Urteil war einstimmig gewesen. Als ihr Anführer war es seine Aufgabe, der Frau die Warnung zu überbringen.
    Der Vollstrecker sah zur Nachttischuhr. Er wartete jetzt schon fast eine Stunde. Lange konnte es nicht mehr dauern. Heute Nacht war sie in CJs Bar, im Westteil der Stadt, das Lieblingslokal der notorischen Partygänger. Ihr Begleiter war ein gewisser DuBroc. Wie üblich, waren sie anschließend zu ihm gegangen. Soweit der Vollstrecker wusste, war dies der erste Fehltritt von DuBroc. Man würde ihn ebenfalls beobachten und notfalls verwarnen müssen.
    Vom Eingang kam das Geräusch eines sich öffnenden Schlosses. Die Tür ging auf und fiel klickend wieder zu. Er schauderte aus Abscheu vor dem Unvermeidlichen. Er war kein Raubtier, wie einige ihn bezeichnen würden. Raubtiere suchten nach Kranken und Schwachen und töteten aus Selbsterhaltungstrieb oder aus einer abartigen Befriedigung heraus.
    Er war weder ein blutrünstiges Monster noch ein Sadist.
    Nein, er war ein Ehrenmann, gottesfürchtig und gesetzestreu. Ein Patriot.
    Aber genau wie die anderen Mitglieder der Sieben wurde er zu verzweifelten Maßnahmen getrieben, um zu schützen und zu verteidigen, was ihm lieb und teuer war.
    Frauen wie diese besudelten die Gemeinschaft. Sie trugen zu dem moralischen Verfall bei, der sich in der Welt ausbreitete.
    Natürlich nicht nur sie. Ebenso alle, die exzessiv tranken, die logen, betrogen und stahlen, alle, die nicht nur die von den Menschen aufgestellten Gesetze brachen, sondern auch die göttlichen.
    Die Gruppe der Sieben war gegründet worden, um diesem Frevel Einhalt zu gebieten. Für den Vollstrecker und seine sechs Generäle ging es nicht vorrangig um die Bestrafung der Sünder, sondern um die Bewahrung des Lebensstils, den Cypress Springs seit über hundert Jahren pflegte. In dieser Stadt konnte man nachts noch sicher über die Straßen gehen, hier war Nachbarschaftshilfe lebendig und Familienwerte waren mehr als von Politikern abgedroschene Phrasen.
    Ehrlichkeit, Integrität, die goldenen Sittenregeln der Bibel, all das war lebendige Praxis in Cypress Springs. Die Sieben hatten es sich auf die Fahnen geschrieben, dies zu erhalten.
    Der Vollstrecker verglich gern individuelle Unmoral mit der Ausbreitung einer Infektion; einmal im Körper, vermehrten sich die Erreger und taten ihr zerstörerisches Werk. Genauso wirkte die Unmoral Einzelner auf ein Gemeinwesen. Unzucht breitete sich aus und zerstörte es. Seine Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass es nicht dazu kam.
    Der Vollstrecker lauschte angestrengt. Die Frau summte leise auf dem Weg zum Schlafzimmer, das im hinteren Teil der Wohnung lag. Ihre hörbare Zufriedenheit widerte ihn an.
    Vorsichtig stand er auf und bewegte sich auf die Tür zu. Die Frau trat ein. Er packte sie von hinten, riss sie an seine Brust und bedeckte ihren Mund mit einer behandschuhten Hand, um sie am Schreien zu hindern. Sie roch nach billigem Parfum, Zigaretten und Sex.
    „Elaine St. Claire“, sagte er dicht an ihrem Ohr, die Stimme durch die Skimaske gedämpft, „du wurdest verurteilt und für schuldig befunden, zum moralischen Verfall dieser Gemeinde beizutragen. Du bist schuldig des Versuchs, einen Lebensstil zu zerstören, der seit über hundert Jahren existiert. Dafür musst du büßen.“
    Er zwang sie, zum Bett zu gehen. Sie wehrte sich, jedoch kläglich schwach – eine Maus, die sich einem Berglöwen widersetzt.
    Er
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