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Der fremde Tote

Der fremde Tote

Titel: Der fremde Tote
Autoren: Agnes Jäggi
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während er mit Hilfe seiner Taschenlampe die Fabrik umrundete, „der gäbe ein tolles Theater ab. Warst du schon mal drin?“, fragte er mich.
    Ich erinnerte mich schwach, als kleines Mädchen durch die Halle mit den riesigen lärmenden Maschinen geschlendert zu sein. Damals gehörte die Fabrik dem Vater einer Schulfreundin von mir. „Es war laut, und die Maschinen kamen mir vor wie Ungeheuer aus dem Weltall“, beantwortete ich Korbis Frage. Ich konnte mich auch nicht erinnern, was genau hier produziert worden war, nur dass sich der Fabrikant übernommen hatte und Konkurs anmelden musste.
    „Ich würde gern durch eines der Fenster steigen und mich mal umsehen“, meinte Korbi.
    „Das Verkaufsschild an der Vorderfront des Gebäudes ist bereits stark verblichen. Die Fabrik muss schon mindestens zwanzig Jahr leer stehen“, erklärte ich ihm. Trotzdem war mir nicht nach einer nächtlichen Fabrikbesichtigung zumute. Und auch Korbi drängte es schliesslich zum Friedhof.
    Wie laut die Stille um uns herum doch war. Die Bäume am Waldrand bogen sich leicht im Wind, die Zweige raschelten. Am Himmel standen keine Sterne, der Mond zeigte sich nur als schmale Sichel. So bummelten wir die wenigen hundert Meter ins Dorf hinein, spazierten die sanfte Anhöhe zum Friedhof hinauf. Nirgends hatten wir Licht in den Fenstern gesehen.
    „Hier wohnen wohl nur Frühaufsteher, dass die schon alle in den Federn liegen“, unkte Korbi.
    „Ja, was sollten sie denn sonst tun? Wir haben kein Kino, keine Nachtlokale. Aber vielleicht sind einige der Bewohner, vor allem die jüngeren, in der Stadt im Ausgang“, erwiderte ich ohne grosses Interesse.
    Etwas anderes hielt mich plötzlich in Atem. Ich sah es noch bevor wir durch die schmiedeeiserne Tür getreten waren: Der ganze Friedhof schimmerte silbern, Gestalten bewegten sich hastig über die verschiedenen Wege. Wir traten näher und erblickten eine kleine Ansammlung dieser schillernden Wesen. Sie standen in einem dichten Kreis um eine Stelle auf dem Kiesweg. Ich hörte aufgeregtes Flüstern. Dann wurde es auf einmal still. Die Wesen erstarrten. Dann, wie in Zeitlupe, drehten sich alle auf einmal um, starrten direkt in unsere fassungslosen Gesichter. Korbi schnappte hörbar nach Luft, mir zitterten die Knie.
    „Ah, ihr seid’s!“ Evas Stimme klang erleichtert. „Wir haben heute gar nicht mit euch gerechnet, aber mit dem da auch nicht. Eine Unverschämtheit ist das – wo der bloss herkommt?“
    Sie trat einen Schritt zur Seite, und wir blickten auf einen offensichtlich toten Mann, der seltsam verdreht am Boden lag.
    „Also, aus Ernheim ist der nicht“, liess sich Robert Sanders Stimme vernehmen. „Ich finde diese Sache irgendwie würdelos!“
    „Ob er wohl von selbst hierher gekommen ist?“, fragte ein ängstlich dreinblickendes ältliches Fräulein.
    Ein Mädchen von etwa zehn Jahren trat aus der Gruppe und behauptete, dass der Mann, in einen Sack gestopft, von zwei Leuten auf den Friedhof gezerrt worden war. „Dann öffneten sie den Sack, und der Mann fiel heraus.“
    „Was denn für Leute? Hast du sie erkannt? Stammen sie hier aus dem Dorf?“ – Die vielen Fragen, die plötzlich auf das kleine Mädchen einprasselten, liessen es verstummen. Ängstlich drängte es sich an eine Frau in meinem Alter. Sie kam mir sehr vertraut vor.
    „Linda?“, fragte ich zögernd, „bist du das?“
    Sie tätschelte die braunen Locken des verschreckten Kindes und sagte: „Wir sind zwei Jahre zusammen zur Schule gegangen. Dann ist unsere Familie nach Frankreich gezogen. Nach meiner Ausbildung heiratete ich Paul aus Ernheim, der mit mir in Paris studiert hatte. Irgendwann entschlossen wir uns, wieder in die Schweiz, nach Ernheim, zurückzukehren. Doch dann gab es einen Unfall.“ – Ich erinnerte mich, es geschah in der Nähe von Zürich. Ein Lastwagen hatte einen Personenwagen gerammt. Der LKW-Lenker war mit dem Schrecken davongekommen, der Mann im PW wurde schwer verletzt ins Unispital geflogen, während die Frau – also Linda – noch auf der Unfallstelle verstarb. Da ich zu beiden keinen Kontakt mehr gehabt hatte, erfuhr ich auch erst viel später, dass die Opfer aus Ernheim stammten.
    „Paul liess mich hier begraben“, fuhr Linda fort, „er selber wollte aber nicht mehr in Ernheim bleiben. Heute lebt er wieder in Paris und leitet eine heilpädagogische Schule für geistig zurückgebliebene Kinder. Er ist oft sehr traurig, doch dann schleiche ich mich in seine Träume, was ihm wieder
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