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Henningstadt

Henningstadt

Titel: Henningstadt
Autoren: Marcus Brühl
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    Tete bürstet ihre Augenbrauen und fixiert sie mit Haarspray. Neben der Mona Lisa, die auf dem Spiegel klebt, ist noch genügend Platz für das eigene Gesicht. Tete betrachtet nachdenklich ihr Spiegelbild. Ein starkes Kinn, eine sanfte Augenpartie, ein paar Falten, der Mund wie der ihrer Mutter. Sie fragt sich, wem sie da in die Augen sieht und schmiert Gel in ihre Kurzhaarfrisur, zupft ein bisschen daran herum. Dann fragt sie das Bild. Sie, die Taucherin war in der Tiefsee, die in entlegensten Fernen mit Händlern Verkehr hatte, Mona Lisa, muss schließlich wissen, ob man gut frisiert ist oder nicht: Und sie lächelt. Tete lächelt zurück. «Danke, Frau Gioconda!»
    Tete wirft sich die Winterperücke auf den Kopf und geht auf die Straße. Hauptsache gut frisiert! Es ist dunkel und natürlich ist es kalt. Es ist kalt, weil Februar ist, nicht weil das Schicksal sie hasst. Rote Schaufensterbeleuchtung taucht die Straße in ein unwirkliches licht. Schneeflocken säuseln zu Boden, bleiben aber nicht liegen. Straße und Bürgersteig glänzen nass und rot. Kein Auto ist unterwegs, kein Fußgänger zu sehen. Es ist Nacht. Wind weht ihr ins Gesicht und klappt die Herrenwinker der Perücke nach außen. Der Sturm heult sie an. Tete kämpft sich durch das Wetter.
    Tete ist eine mächtige Zauberin. Wenn sie befiehlt, bewaffnen sich die Dämonen der Hölle, um ihr zu gehorchen. Davon macht sie allerdings selten Gebrauch. Eigentlich lebt sie unerkannt. Eigentlich kann sie nicht mal einen Brief zum Briefkasten bringen, ohne dass er nass wird und die Adresse verschmiert. Sie ärgert sich.
    Mit einem Stoßgebet wirft sie den Brief ein: Er möge nützen! Hoffentlich bringt er was! Hoffentlich kommt er an! Zu Hause tritt sie vor den Spiegel. Nichts hat sich verändert.
    Vielleicht muss sie warten, bis der Brief ankommt.
    Vielleicht ändert sich die Vergangenheit nicht.
    Nicht durch einen Brief.
    Nicht durch einen faulen Zauber.
    Tete kratzt sich am Kopf. Die Perücke verrutscht. Tete nimmt sie und wirft sie auf ihren Ständer. Dann stellt sie sich vor den Spiegel und wartet, bis der Brief ankommt. Man weiß nicht, wie lange so ein Brief braucht.
    Drei Tage und drei Nächte bleibt sie vor dem Spiegel stehen. Dann hat sie einen Bart, aber sonst ist nichts passiert. Jedenfalls kann man es nicht sehen.
     
     
     
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    Schritte schreien im Hausflur. Henning flüchtet von der Party. Manchmal fremdelt er. Dann will er keinen sehen, kann keinen mehr riechen, und alles liegt hinter einer fetten Milchglasscheibe, die ihn vom Rest der Welt trennt. Alles scheint unwirklich. Er ist mit Isa auf Eriks Party. Alle sind da: Die gesamte Stufe tanzt und säuft, dazu die Stadtjugend. Es ist eine Campari-Orange-Party. Man trinkt roten Orangensaft und wundert sich, dass man schon torkelt.
    Rote Lampen und Lämpchen zeigen die Dunkelheit eher her, als dass sie sie erhellen. Im Wohnzimmer steht ein Stroboskop, das die Bewegungen zerhackt. Musik. Natür lich gibt es Musik. Sie ist so, laut, dass man schreien müsste, wenn man was sagen wollte.
    Henning stiehlt sich davon, er läuft durch die Straßen. Es ist eine laue Nacht im frühen Sommer. Er geht schnell, er will schwitzen. Nach kurzem Zögern schlägt er den Weg zum Friedhof ein, der fast mehr ein Park ist. Hier wird ihm zu so später Stunde niemand begegnen. Er dreht seine Runde und setzt sich neben den Brunnen für Gießwasser. Es ist dunkel. Die Toten liegen gut verpackt unter der Erde und lassen die Lebenden unbehelligt. Hen ning gibt sich Mühe, keine Angst zu haben. Schließlich ist es normal, zu sterben und zu vermodern. Das Leben ist eine große Chance oder viele tausend kleine Chancen, je nachdem, wie man das sieht, und dann ist es vorbei. Das Bewusstsein erlischt mangels Versorgung durch einen Kör per. Henning lehnt sich zurück, lächelt und denkt ent spannt an die Freuden des Todes, der so ruhig ist, dass man gar nicht merkt, dass man tot ist. Das Gebüsch neben ihm bewegt sich, es raschelt, knackt und knistert. Hen ning zuckt erschrocken zusammen. Eine menschliche Ge stalt kommt daraus hervor. Sie nähert sich langsam und bedrohlich.
    «Ich wollte dich nicht erschrecken, tschuldige!», sagt der Untote und geht weiter.
    Anstatt mal nachzuschauen, ob da noch wer im Ge büsch ist, lehnt Henning sich wieder zurück. Er lauscht dem Plätschern des Brunnenwassers, das irgendwie lauter geworden ist. Dieser Brunnen hört mit. Er verteilt die Gerüchte der Stadt in alle Haushalte, die
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