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Flut

Flut

Titel: Flut
Autoren: Daniel Galera
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Als mein Onkel starb, war ich siebzehn und kannte ihn nur von alten Fotos. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund meinten meine Eltern, die Initiative für einen Besuch müsse von ihm ausgehen, und weigerten sich, mit mir an die Küste von Santa Catarina zu fahren. Ich wollte wissen, was für ein Mensch er war, und ein paar Mal kam ich sogar in die Nähe von Garopaba, aber letzten Endes schob ich es dann doch immer auf. Wenn man jung ist, kommt einem der Rest des Lebens wie eine Ewigkeit vor, und man glaubt, man habe für alles noch Zeit. Es dauerte eine Weile, bis mein Vater von seinem Tod erfuhr, er hatte sich in eine Hütte in der Serra Paulista zurückgezogen und versuchte, seinen Roman zu Ende zu schreiben. Mein Onkel ertrank beim Versuch, eine Frau zu retten, die an der Praia da Ferrugem von den Felsen ins Wasser gefallen war. Die Brandung war an dem Tag wohl ziemlich heftig, mit bis zu drei Meter hohen Wellen. Die Frau klammerte sich an die Rettungsboje und wurde anschließend von anderen Rettungsschwimmern geborgen. Die Leiche meines Onkels wurde nie gefunden. Es gab eine symbolische Beisetzung in Garopaba, zu der wir dann gefahren sind. Meine Mutter zeigte mir, wo er zuerst gewohnt hat, das Haus existiert heute nicht mehr. Auf den Fotos von damals sieht man das zweistöckige beigefarbene Gebäude mit Terrasse, direkt am Meer über den Felsen. Es standen noch keine Hochhäuser am Strand, und man konnte dort wunderbar schwimmen. Die Bewohner des alten Ortskerns, der bis heute unter Denkmalschutz steht, lebten zum Teil noch vom traditionellen Fischfang, der inzwischen Bootstouren für Touristen gewichen ist. Wir lernten seine Witwe kennen, sie hatte sehr helle Haut und unzählige ausgeblichene Täto wierungen, und seine beiden kleinen Kinder, ein Junge und ein Mädchen, die beide die blauen Augen der Mutter geerbt hatten. Mein Cousin und meine Cousine. Bei der Beisetzung waren nur wenige Menschen. Meine Mutter bekam unverständlicherweise einen Heulkrampf, und später sah sie ungefähr eine halbe Stunde lang aufs Meer hinaus und sprach mit sich selbst oder vielleicht auch mit irgendjemand anderem. Es waren noch mehr Menschen da, die aufs Meer hinaussahen, so als warteten sie auf etwas, und ich hatte das seltsame Gefühl, dass sie alle an meinen Onkel dachten, obwohl er mir als ein zurückgezogener Mensch beschrieben worden war, den kaum jemand kannte und der aus einer vergangenen Zeit zu kommen schien. Ich hatte die Idee, die Leute mit der Kamera zu interviewen, und meine Eltern erlaubten mir, ein paar Tage allein in der Stadt zu bleiben. Niemand hatte meinen Onkel näher gekannt, aber irgendwie konnte jeder etwas über ihn erzählen. Anfang des vorherigen Jahrzehnts hatte er eine kleine Praxis aufgemacht und Stretching und Pilates unterrichtet. Die meisten haben ihn als Triathlon-Trainer in Erinnerung, und offenbar haben einige seiner Schüler Landes- und nationale Meisterschaften gewonnen. In der Sommersaison setzte er mit allem anderen vorübergehend aus und arbeitete als Rettungsschwimmer. Er war der beste. Jedes Jahr trainierte er die Freiwilligen. Wenn es Abend wurde, nachdem er zwölf Stunden lang in der sengenden Sonne des ozonschichtfreien Südens Badende aus dem Wasser geholt und Sonnenstich- und Quallenopfer verarztet hatte, sah man ihn allein weit draußen schwimmen, egal wie aufgewühlt das Meer war, ob es in Strömen goss oder früher als erwartet dunkel wurde. Er war ein Außenseiter, und irgendwann heiratete er dann eine Frau, von der niemand wusste, woher sie plötzlich gekommen war, und baute ein Haus an einem der Hügel der sogenannten Volta do Ambrósio. Jeder, der sich an meinen Onkel erinnert, erwähnt einen hinkenden Hund, der schwamm wie ein Delfin und selbst weit draußen im Meer an seiner Seite war. So weit das, was man als Fakten bezeichnen könnte. Der Rest ist eine Ansammlung von Gerüchten, Legenden und pittoresken Geschichten. Es hieß, er sei in der Lage gewesen, zehn Minuten unter Wasser zu bleiben, ohne zu atmen. Der Hund, der ihm überallhin folgte, sei unsterblich gewesen. Er habe mit zehn Einheimischen gleichzeitig gekämpft und sie besiegt. Nachts sei er von einem Strand zum anderen geschwommen und dann irgendwo weit weg aus dem Meer gekommen. Dass er jemanden getötet habe und deshalb so zurückgezogen lebe. Jedem, der zu ihm kam, habe er seine Hilfe angeboten. Er habe immer schon dort an den Stränden gelebt und werde bis in alle Ewigkeit dort bleiben. Mehrere Leute sagten
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