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Der Finger Gottes

Der Finger Gottes

Titel: Der Finger Gottes
Autoren: Andreas Franz
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unter sich begrub.
    Es gab einen Arzt, Dr. Reuter, der einen außerordentlich guten Ruf bis weit über die Ortsgrenzen hinaus genoß. Und Pfarrer Engler war sorgsam darauf bedacht, alle seine Schäfchen wohlbehütet durch dieses Leben voll tückischer Fallen zu geleiten.
    Waldstein war eine Stadt der kleinen Leute, von denen viele in kleinen sauberen Häuschen wohnten, eingerahmt von kniehohen weißgetünchten Zäunen, sauber verlegte Steinwege führten vom Tor zum Haus, bunte Sträucher verströmten an manchen Tagen einen schweren, betörenden Duft.
    Die wenigen Straßen waren schmal, bis auf die von Pappeln gesäumte Hauptstraße. Autos wurden kaum verschlossen, man vertraute sich, weil man sich kannte.
    Nur am östlichen Stadtrand von Waldstein, gerade noch innerhalb der eigentlichen Ortsgrenzen, lebte eine Familie, die sich sehr wesentlich von den übrigen Bewohnern unterschied – die Vandenbergs. In der siebten Generation lebten sie hier, hier lagen ihre Wurzeln, hier hatten sie mit ihren Geschäften begonnen, die sie mittlerweile auf der ganzen Welt tätigten, sie besaßen Häuser und Wohnungen auf fast jedem Erdteil, gehörten zu den Reichsten und Mächtigsten im Land. Dabei machten die ausgedehnten Ländereien nur noch einen winzigen Bruchteil am Gewinnkuchen aus, ein Großteil der Spinnereien, Webereien und Textilfabriken war längst an andere Standorte verlagert worden, während die alten Gebäude langsam vor sich hin rotteten, die Scheiben und Oberlichter blind oder ausgeschlagen, die zurückgelassenen Maschinen verrostet, die Flachsfelder, vor dem zweiten Weltkrieg noch ein ertragreiches Geschäft, waren unrentabel geworden und wurden jetzt als Kartoffel- oder Rübenäcker genutzt. Doch auch wenn die Geschäfte in den großen Städten dieser Welt abgewickelt wurden, so residierten die Vandenbergs doch weiterhin in Waldstein, obgleichdieser weltvergessene Marktflecken wahrhaftig jeden Reiz vermissen ließ. Aber es war ihre Stadt, ihr Land, ihr Grund und Boden, Waldstein hätte genausogut Vandenberg-Stadt heißen können, denn ihnen gehörte fast alles hier und in der Umgegend, Grundstücke, Häuser, Ländereien; statt zu fragen, was ihnen gehörte, sollte man eigentlich fragen, was ihnen noch nicht gehörte.
    Sie bewohnten einen prachtvollen schneeweißen Herrensitz, gebaut vor mehr als hundertfünfzig Jahren, umgeben von einem ausgedehnten Park, überwacht von ausgeklügelter Elektronik und einem Dutzend Angestellten sowie zwei furchteinflößenden, schwarzen dänischen Doggen, die jeden Fremden, der sich der Toreinfahrt näherte, argwöhnisch beäugten.
    Sie besaßen fast alles: Geld, Macht, Einfluß. Und seit einigen Jahren spielten sie eine immer größere Rolle in der Politik. Das vorläufige Tüpfelchen auf dem i sollte bereits im Herbst gesetzt werden, wenn die Landtagswahlen anstanden und von allen Bewerbern Jonas Vandenberg, der mittlere von drei Brüdern, allerbeste Aussichten hatte, zum neuen Ministerpräsidenten von Bayern gewählt zu werden. Er war beliebt, sein Zahnpastalächeln flimmerte immer öfter über die Bildschirme, immer häufiger wurden Interviews mit ihm abgedruckt, immer deutlicher wurde sein Eintreten für mehr Gleichberechtigung von Mann und Frau, für verstärkten Schutz der Jugend; er hielt feurige Plädoyers für die Schaffung von Arbeitsplätzen, forderte drastische Maßnahmen für solche, die arbeitsunwillig waren und sich auf Kosten des Staates schmarotzend durchs Leben schlugen, verlangte, daß wieder mehr auf moralische und ethische Werte gesetzt wurde, verdammte Abtreibung und forderte mehr Familiensinn. Er war liberal und konservativ zugleich, und vielleicht war es dieser reizvolle Widerspruch, der viele bewog, sich auf seine Seite zu schlagen.
    Die alteingesessenen Waldsteiner, neueingesessene gab es ja fast keine, waren stolz – hatte man doch sonst kaum etwas, worauf stolz zu sein sich lohnte –, bald einen Ministerpräsidenten quasi aus den eigenen Reihen stellen zu können. Man war stolz, obwohl die Vandenbergs sich nur äußerst selten im Ort blicken ließen, nur einmal im Jahr präsentierten sie sich der Öffentlichkeit, am 15. Mai, dem Tag, an dem Waldstein vor jetzt 543 Jahren die Stadtrechte verliehen worden waren. Am 15. Mai fuhren sie in ihren dunkelblauen Nobelkarossen hinter dunkel getöntem Glas durch das ihnen zujubelnde Waldstein und hielten den ganzen Ort mit Essen, Getränken und Unterhaltungsprogrammen frei.
    Brackmann passierte das Anwesen der
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