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Morgen trauert Oxford

Morgen trauert Oxford

Titel: Morgen trauert Oxford
Autoren: Veronica Stallwood
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KAPITEL 1
    Oxford, wach auf!
    Das Land erträgt schon viel zu lang
    deines schläfrigen Liedes sinnlosen Klang …
    G. V. Cox, Black Gowns and Red Coats, 1834
    Z

    wei kleine, in blaue Tuniken und goldene Helme gewandete Ritter rückten unter dem Surren und Klicken des Uhrwerks langsam vorwärts. Irgendwann blieben sie stehen, und nach einem kurzen Moment der Ruhe schlugen sie auf ihre goldenen Glöckchen, um die Bürger von Oxford zu informieren, dass es sechs Uhr war.
    Auf der Straße unterhalb des Carfax Tower hasteten Massen müder Menschen durch die feuchte Oktoberluft zu ihren Bushaltestellen. Niemand achtete auf die Glocken. Niemand – außer einer Frau in den Dreißigern mit kurz geschnittenem, blondem Haar und runden grauen Augen. Sie war Schriftstellerin und hieß Kate Ivory.
    Als das erste Glöckchen erklang, blieb sie mitten auf der Kreuzung stehen und verursachte ein mittleres Verkehrschaos. »Entschuldigung!«, lächelte sie die Leute an, die in sie hineinrannten. Aber seht doch nur!, hätte sie am liebsten gerufen. Fällt euch denn nichts auf? Diese Stadt ist voll gestopft mit wunderhübschen alten Sachen, die wir überhaupt nicht mehr registrieren. Die einzigen Dinge, die wir noch wahrnehmen, sind die neue Herbstmode im Schaufenster von Marks & Spencer und die Schlagzeilen am Zeitungsstand.
    In ihrer Fantasie entfernte Kate sämtliche Busse nebst der hektisch rennenden Menge und versetzte sich ins Jahr 1865. Das ist es, worauf du dich konzentrieren solltest, ermahnte sie sich. Denk an deine Arbeit. Finde die zündende Idee, die außergewöhnliche Wendung, die dein nächstes Buch zu etwas ganz Besonderem macht.
    Doch leider kam die Eingebung nicht. Kate musste sich mit dem Klang der Glöckchen über dem brausenden Verkehrslärm begnügen.
    Sie zuckte die Schultern, fuhr sich mit beiden Händen durch das kurz geschnittene blonde Haar – ihr Frisör hätte bestimmt wieder geschimpft – und setzte ihren Weg im Strom der anonymen Menge fort. Sie ging die Queen Street entlang, kam am Gefängnis und am Castle Mound vorüber und bog schließlich in Richtung Bahnhof ab. Sensationelle Entdeckung in Oxford lautete die reißerische Schlagzeile einer Zeitung.
    Kate Ivory ging am Zeitungsstand vorüber. Die Nachricht machte keinen Eindruck auf sie, und sie unterließ es, die Zeitung zu kaufen. Wie hätte sie auch ahnen können, dass die Titelgeschichte etwas mit ihr zu tun hatte?

    Liam Ross saß in seinem Büro im College. Er blickte nur kurz auf, als die Trauerglocke elf Mal geschlagen wurde. Die Flagge über dem Pförtnerhaus hing auf Halbmast. Beim Klang der Glocke fiel Liam wieder ein, dass kürzlich ein seit langer Zeit pensionierter und längst aus dem Gedächtnis der Leute verschwundener Dozent verstorben war. Ross entsann sich seiner dunkel als eines gebückten, ziemlich tauben alten Herrn, der sich beim letzten Festessen über die Speisenfolge beschwert hatte. Liam schob die Erinnerung mit der Leichtigkeit eines Menschen von sich, der noch mindestens fünfzig Jahre vor sich hatte, ehe er sich um die eigene Senilität sorgen musste. Er blickte auf die Uhr. Viertel nach sechs. Er würde noch eine weitere Stunde arbeiten können und ausreichend Zeit für eine ausgiebige Dusche haben, ehe er sich zum Essen mit seiner Liebsten traf. Das Leben war schön. Liam führte einige ausgesprochen befriedigende Beziehungen, ohne langweilige Verpflichtungen befürchten zu müssen. So durfte es durchaus noch ein paar Jahre weitergehen. Er klappte das Buch zu, in dem er gelesen hatte, und legte es auf den schwankenden Stapel, der sich bereits auf seinem Schreibtisch angehäuft hatte. Demnächst würde er unbedingt einmal aufräumen müssen, dachte er, während er die hoffnungslos überquellenden Aktenordner, die Berge von Musik-CDs und die CD-ROMs betrachtete, die ringsherum in seinem Büro verstreut lagen. Vielleicht ein andermal. Sein Hausdiener meckerte zwar immer wieder über die Unordnung, aber er selbst fühlte sich damit gar nicht einmal unwohl. Er fand, dass so etwas zu einem richtigen Akademiker-Leben gehörte.

    Der Klang der Glocken erhob sich über den Verkehrslärm. Er schwebte am Magdalen College vorüber und trieb über die Magdalen Bridge auf einen kleinen, grünen Hügel zu. Eine Gruppe junger Leute, die sich auf dem Gras niedergelassen hatte, sah hinab in den bläulichen Dunst, aus dem Kuppeln, Türme, Bäume und Zinnen herausragten, und lauschte dem Geläut.
    Lediglich die junge Frau, die sie Angel
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