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Der Finger Gottes

Der Finger Gottes

Titel: Der Finger Gottes
Autoren: Andreas Franz
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Vandenbergs. Das einzige Mal, daß er einem von ihnen die Hand geschüttelt hatte, war bei seinem Dienstantritt vor knapp sechs Jahren gewesen. Er war damals aus Frankfurt gekommen, und obwohl er gewußt hatte, daß er in ein Nest geraten würde, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten, so hatte er doch nicht mit dieser extremen, bisweilen grausamen Eintönigkeit gerechnet, die in diesem öden, auf kaum einer Landkarte zu findenden Ort herrschte. Saubere Straßen, saubere Häuser, saubere Gärten, ein irgendwie immer sauberer Himmel, egal ob blau oder grau. Keine Unordnung, keine Unruhe, geschweige denn so etwas wie Kriminalität. Die Bezahlung für dieses Nichtstun hingegen geradezu fürstlich, er erhielt das gleiche Gehalt wie in Frankfurt, nur hatte er sich dort im Bahnhofsviertel täglich mit kleinen und großen Gaunern und Spinnern, randalierenden Säufern und Junkies, Vergewaltigern und Totschlägern, Zuhältern und Mördern herumschlagen müssen. Nichts davon gab es in Waldstein, kaum einmal, daß ein Betrunkener die Ausnüchterungszelle vollkotzte.
    Doch Brackmann hatte nicht grundlos die Einsamkeit undRuhe in einer kleinen Stadt gesucht. Mit siebenunddreißig war er es leid gewesen, immer wieder sinnlos Menschen sterben zu sehen, und irgendwann, nach irgendeinem sinnlosen Sterben war er an den Punkt gelangt, wo er diese Art von Tod nicht mehr ertragen konnte und mochte und nicht mehr in der Lage war, Angehörigen zu sagen, der Sohn oder die Tochter oder der Ehemann oder Vater lebten nicht mehr.
    Ein Unfall, ein eingeschlagener Schädel, ein aufgeschlitzter Bauch … er ertrug solche Anblicke nicht mehr. Er ertrug nicht mehr die hoffnungslosen Gesichter der Heroinsüchtigen, die im Abfall nach Eßbarem wühlten, die aufgedunsenen Gesichter und ausgemergelten Körper der alkoholabhängigen Straßenmenschen, die nirgends eine Bleibe hatten als irgendwo unter irgendeiner Mainbrücke oder in irgendeinem miefigen Hauseingang, vor allen Dingen aber ertrug er nicht länger die immer weiter eskalierende Gewalt, die immer jüngeren Täter, Kinder, acht, neun oder zehn Jahre alt, die mit Messern und Schlagringen, Knüppeln und Ninjasternen bewaffnet, immer öfter sogar mit Pistolen oder Gewehren Jagd aufeinander oder völlig unbeteiligte Menschen machten. Wenn schon Kinder mit dem Krieg begannen, wo war dann das Ende der Spirale?
    In irgendeiner Nacht hatte er das erste Mal nicht mehr schlafen können; er war zwischen drei und vier aufgewacht, hatte gedacht, daß alles mit einem Mal so furchtbar sinnlos war … viele solcher Nächte folgten. Der erste Zusammenbruch, wenig später ein heftigerer zweiter, ein zweiwöchiger Klinikaufenthalt, Tabletten. Und schließlich sah er sich vor die Wahl gestellt, entweder den Polizeiberuf an den Nagel zu hängen oder wegzugehen in eine kleinere, ruhigere Stadt mit einer geregelten Arbeitszeit, nicht wie in Frankfurt, wo ein Zwölfstundentag die Regel war.
    Doch die Depressionen und Angstzustände blieben sein unsichtbarer Begleiter. Sie waren urplötzlich gekommen,eines Morgens noch vor dem Aufstehen. Er hatte die Augen geöffnet, auf eine schwarze Wand geblickt und in ein noch schwärzeres tiefes Loch, seine Beine schienen mit schweren Ketten ans Bett gefesselt, seine Brust wurde von einem tonnenschweren Eisengewicht zerquetscht, sein Mund war trocken wie Wüstensand, und da war das absolut sichere Gefühl, entweder bereits tot zu sein oder im nächsten Moment sterben zu müssen. Etwas Fremdes, Unheimliches, Schleimiges, Tödliches war in jeden Winkel seines Körpers gekrochen und hatte sich festgekrallt. Das Tageslicht hatte mit einem Mal etwas grausam Erdrückendes, die Vorstellung, auf die Straße unter Menschen gehen zu müssen, kam fast einem Todesurteil gleich.
    Er hatte seinen Zustand zunächst auf Überarbeitung geschoben, denn etliche Kollegen waren in der Vergangenheit ausgefallen, deren Dienst er zum Teil hatte mit übernehmen müssen. Er hatte ein paar Tage frei genommen, sehr zum Unwillen seines Vorgesetzten; die Erholungsphase wollte er nutzen, um sich zu regenerieren. Die Beschwerden aber waren geblieben, fast jeder Morgen war der Morgen der Vollstreckung eines Todesurteils. Schließlich, nachdem seine Nerven endgültig am Boden lagen, hatte er einen Arzt aufgesucht, der ihm die niederschmetternde Diagnose mitteilte – Depressionen. Und dabei litten doch unter Depressionen höchstens Kriegsveteranen, die selbst nach fünfzig Jahren noch von aufgeschlitzten
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