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Der Finger Gottes

Der Finger Gottes

Titel: Der Finger Gottes
Autoren: Andreas Franz
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Schultern zu reichen; er wirkte noch kleiner.
    »Sie ist tot. Weiß der Teufel, was in sie gefahren ist, aber sie ist einfach tot«, flüsterte er und schüttelte verzweifelt den Kopf. Mehr Blöße gab er sich aber nicht, er kämpfte erfolgreich gegen die Tränen an. Es war ein offenes Geheimnis, daß Reuter sich die ganzen Jahre über Hoffnungen auf sie gemacht hatte, doch Maria Olsen hatte ihre starre, unbeugsame Haltung ihm gegenüber zu keiner Zeit aufgegeben. Zwar hatten sie oft zusammengesessen, manchmal bis spät in die Nacht, um sich zu unterhalten, Karten zu spielen oder zu essen – Maria war bekannt für ihre Kochkünste –, aber mehr als einen Kuß auf die Wange zum Geburtstag hatte sie nie zugelassen. Trotzdem hatte Reuter nie aufgehört, sie zu umwerben. Nun war die Zeit des Werbens vorbei.
    Sie hatten beide allein gelebt, jeder für sich in einem großen Haus, nur getrennt durch die Straße. Reuters Frau war durchgebrannt, kurz nachdem er seine Praxis vor bald fünfunddreißig Jahren hier eröffnet hatte. Sie hatte es nur wenige Monate in Waldstein ausgehalten, war unzufrieden, wollte zurück in die Großstadt, das Leben erleben. Irgendein Fremder war gekommen und sie am nächsten Morgen mit ihm verschwunden. Reuter hatte nie wieder etwas von ihr gehört, nur kurz bei der Scheidung, für ihn war sie tot.
    Und nun war auch Maria Olsen tot. Brackmann wußte, wieviel sie dem Doktor bedeutet hatte, er hätte ihm gerne in seinem Schmerz zur Seite gestanden. Reuters Blick wardumpf auf einen imaginären Punkt am Ende der Straße gerichtet, die noch vollen, etwas zu lang gewachsenen grauen Haare durcheinander. Brackmann legte ihm eine Hand auf die Schulter, sagte leise: »Tut mir leid, Doktor, ich kann mir vorstellen, wie Ihnen jetzt zumute ist …«
    »Ach was, gar nichts können Sie!« fuhr er Brackmann barsch an und schüttelte die Hand von seiner Schulter. »Gehen Sie lieber rein zu Ihrem Kollegen und lassen sich von ihm alles berichten!«
    Richter kam Brackmann bereits entgegen, faßte sich verlegen ans linke Ohrläppchen.
    »Was ist passiert?« fragte Brackmann.
    »Wenn ich das wüßte!« antwortete Richter ratlos. »Ich hab nur unsern Doktor wie von Furien gehetzt über die Straße rennen sehen. Dann hielt ich an, weil ich so ein komisches Gefühl hatte. Ich ging rein und sah, wie er sich über Frau Olsen beugte. Ich half ihm, sie vom Laden in die Wohnung zu tragen. Sie hat es kaum geschafft, die Augen aufzumachen, geschweige denn sich zu bewegen. Er hat getan, was er konnte. Aber Sie sehen ja selbst … Sie hat übrigens zweimal nach Ihnen verlangt. Das ist alles, was ich dazu sagen kann.« Er wollte sich bereits abwenden, als er innehielt, Brackmann ansah und sagte: »Ach ja, sie hat zum Schluß noch so ’ne seltsame Bemerkung gemacht, von wegen es täte ihr leid und so ’n Zeug. Aber fragen Sie mich nicht, was sie damit gemeint haben könnte. Und beinahe hätte ich’s vergessen, sie erwähnte noch was von einem Brief und Pfarrer Engler.« Richter stand neben Brackmann, die Hände in den Taschen seiner Hose vergraben, den Blick gesenkt.
    »Danke, Sie können jetzt gehen.« Brackmann begab sich ins Schlafzimmer, wo sie auf dem Bett lag. Als schliefe sie nur, den Mund wie zu einem leisen, sanften Lächeln verzogen, als sei der Tod in Gestalt eines guten Freundes gekommen.
    Die Wohnung war das Spiegelbild von Maria Olsen, sauber und ordentlich, irgendwie freundlich und höflich. Das Schlafzimmerfenster war geschlossen, die Klimaanlage surrte leise.
    Brackmann hatte den Tod oft gesehen, und oft hatte er ihn kaltgelassen. Diesmal trug der Tod ein anderes Gewand. Er fühlte sich neben der Toten unbehaglich. Vielleicht, weil er sie kannte, im Gegensatz zu den vielen anderen, oft namenlosen Toten, mit denen er früher konfrontiert worden war. Darum verweilte er auch nicht lange vor dem Bett, drehte sich um, Reuter kam mit schweren, schlurfenden Schritten ins Zimmer, bückte sich, nahm seine schwarze Tasche vom Boden auf. Hielt sie einen Moment mit beiden Händen stumm umklammert, sah Brackmann an, stellte dann die Tasche auf einen Stuhl und öffnete sie weit.
    »Sie werden sicherlich wissen wollen, woran sie gestorben ist.« Er nahm das Stethoskop vom Bett sowie ein kleines braunes Fläschchen, verstaute beides in der Tasche, warf einen letzten, undeutbaren Blick auf die Tote. »Genau kann ich es nicht sagen, aber ich nehme an, es war ein Schlaganfall. Sie hat in den letzten Tagen verschiedentlich über
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