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Der Finger Gottes

Der Finger Gottes

Titel: Der Finger Gottes
Autoren: Andreas Franz
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Fichtelgebirges, und die einzigen, die Toni besuchten, waren die Einheimischen selbst. Fremde verirrten sich nur selten hierher, höchstens dann und wann ein Vertreter oder ein Durchreisender, aber es hielt keinen Fremden lange in diesem gottverlassenen Kaff. Wer zu Toni kam, verlangte meist Bier oder Korn oder beides zusammen, wer Hunger hatte, konnte zwischen Schnitzel, Hamburger oder Rührei mit Schinken wählen und sich zum Essen entweder an den Tresen oder einen der zehn dunkelbraunen, abgenutzten, runden Tische setzen.
    Jetzt zur Mittagszeit hatte Toni nur einen Gast, den alten Willy, dessen Alter keiner im Ort kannte, möglicherweise kannte er es selbst nicht; seit Jahren hatte er hier seinen Stammplatz, auf dem er mit seiner blanken, abgewetzten, dunkelblauen Hose saß, auf immer demselben Hocker, dem dritten von der Tür aus gesehen – insgesamt gab es acht an der Theke –, von dem aus seine alten Augen den Marktplatzrecht gut überblicken konnten. Meist jedoch war sein Interesse stur auf das Glas gerichtet, das jetzt fast leer vor ihm auf dem blanken Metall des Tresens stand, und es war beinahe unmöglich herauszufinden, was sich hinter seiner breiten, fliehenden Stirn abspielte. Er trank aus, nuschelte durch den fast zahnlosen Mund: »Noch ’n Bier.«
    »Hast du Charlie heute schon gesehen?« fragte Toni, während er das Bier einschenkte. Mit Charlie meinte er Karl Müller, den besten und einzigen Freund und Saufkumpan von Willy. Eine dichte weiße Schaumkrone bedeckte zu mehr als zur Hälfte das Glas; Toni nahm mit einem Löffel einen Teil des Schaums ab, beförderte ihn in das Becken und füllte wieder Bier nach. Er stellte das Glas vor Willy.
    »Hm, vorhin«, knurrte der, umfaßte das Glas mit seinen braunen, von harter Arbeit gezeichneten Händen, »und jetzt hält er sein Schläfchen. Du kennst das ja«, dabei zuckte er mit seinem rechten Mittelfinger – den kleinen und den Ringfinger der linken Hand hatte Willy vor Jahren in einer Kreissäge verloren – und grinste schief, »wenn er dabei ist, weckt ihn nicht mal ’n Kanonenschlag auf.« Er schüttelte seinen von lichtem, grau-weißem, fettigem, bis über die Ohren hängendem Haar bedeckten Schädel. »Charlie hat heut wieder Geld gekriegt. Wird wohl später vorbeischauen.«
    Toni war mit dem Polieren der Gläser fertig und wischte abschließend mit dem Tuch über den Tresen. »Auch wenn’s mir egal sein sollte, aber ich kann Charlie einfach nicht verstehen. Wenn ich jeden Monat so viel Geld …!« Toni breitete seine Arme aus und schüttelte verständnislos den Kopf. »Mein Gott, ich wüßte, was ich damit anfangen würde! Aber er, was macht er? Er versäuft es oder steckt’s den Huren in den Rachen! Wenn ich mir nur sein Haus ansehe … Ein Schandfleck für diesen Ort, diese verkommene Bruchbude! Und sein Garten sieht aus, als hätte eineHerde wildgewordener Bullen eine Party veranstaltet.« Toni hielt kurz inne, atmete tief die heiße Luft ein, machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber was reg ich mich auf, ist schließlich sein Problem und nicht meins!«
    »Ich würd’s machen wie er. Sein verdammtes Leben war beschissen genug, oder etwa nicht? Vierzig oder fünfzig gottverdammte Jahre lang Tag für Tag auf den gottverdammten Feldern! Wer weiß, wie lang er’s noch macht!«
    »Daß du es genauso machen würdest, ist mir klar«, frotzelte Toni. Willy reagierte nicht darauf, seine unergründlichen Gedanken befanden sich schon wieder in einer anderen Welt. Vielleicht träumte er den Traum des einsamen alten Mannes, der ein Leben lang vergeblich auf die Frau gewartet hatte, doch nun war er alt und gebrechlich und versoffen dazu, und vielleicht träumte er davon, daß sein Leben, das seit Jahren aus kaum mehr als dem Heben von Biergläsern bestand, schon bald ein Ende fand. Er grübelte viel, lachte kaum, die dumpfe Resignation eines alten Säufers hatte Willy in Ketten gelegt. Er widmete sich wieder seinem Glas, das ausdruckslose Gesicht leicht nach unten geneigt, die grauen Bartstoppeln wuchsen wild über seine Backen bis hinunter zum Kragen des schmutzigen Hemdes, tiefe Gräben durchzogen das Gesicht, den Hals abwärts, wo sie unter seinem Hemd verschwanden.
    Einen Moment lang war das lauteste Geräusch das leise Surren des Ventilators, dessen Rotorblätter sich müde und langsam bewegten und die heiße Luft nur ein wenig durcheinanderwirbelten. Die Klimaanlage, die erst im vergangenen Jahr wegen des zweiten langen und heißen Sommers
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