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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe
Autoren: Nicci French
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sie die Antwort gar nicht wirklich hören. »Wer, zum Teufel, bist du?«, fragte sie als Nächstes, aber auch das wollte sie gar nicht wissen. Es spielte überhaupt keine Rolle. Außerdem lachte er sowieso nur.
    Nachdem er die Vorhänge zugezogen hatte, zündete er sich eine Zigarette an und reichte sie an sie weiter, oder vielleicht war es auch ein Joint. Während sie sich zurück in die Kissen sinken ließ, ihre Schuhe in eine Ecke schleuderte und die Beine unter den Körper zog, stieg ein wildes Verlangen in ihr auf.
    »Was machen wir jetzt?«, fragte sie, aber natürlich wusste sie, was sie jetzt machen würden. Sie begann ihre Bluse aufzuknöpfen, und er beobachtete sie dabei. Auch der Wellensittich sah ihr zu. Aus seinem Schnabel drangen freche, hohe Trillerlaute. Sie trank etwas Klares, Feuriges und spürte die Hitze des Alkohols durch ihren Körper schießen, bis sie in ihrem Innersten geschmolzen war. Sie hörte Musik, aber es fühlte sich an, als käme sie aus ihrem Kopf. Sie konnte nicht unterscheiden zwischen dem Rhythmus ihrer Gefühle und den Tönen des Songs. Alles hatte sich mit allem anderen verbunden.
    Eine Weile war sie mit der Musik allein im Raum, aber dann war sie es plötzlich nicht mehr. Ich war nicht mehr allein.
    Während ich mich zurücklehnte und mir von ihm den Rock ausziehen ließ, fühlte ich mich sanft und weich wie der Fluss, an dem wir gesessen hatten. Erst lagen wir auf dem Sofa, dann auf dem Boden. Finger machten sich an Knöpfen zu schaffen. Wenn ich die Augen schloss, blitzten hinter meinen Lidern Lichter auf, und es war, als befände sich dort eine ganz eigene, seltsame Welt, über die ich keine Kontrolle hatte und die gleich in meinem Gehirn explodieren würde. Deswegen hielt ich die Augen offen und versuchte mich auf die reale Welt zu konzentrieren, aber ich weiß nicht mehr, was ich sah. Risse in der Decke, das Bein eines Stuhls, eine Wand, die nur wenige Zentimeter von mir entfernt war, ein Gesicht, das sich auf das meine senkte, die Kontur eines Mundes. Ich schmeckte Blut und fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. Mein Blut: gut. Der raue Teppich schürfte meine Haut auf: gut. Harte Finger bewegten sich über meine Arme, meinen Körper, gruben sich in mich. Mich und doch nicht mich. Mich und diese andere Frau, die gerade ihre Bluse auszog. Abgerissene Knöpfe landeten auf dem Boden, während sich die Frau auf ein Bett fallen ließ, das Haar auf dem Kissen ausgebreitet. Hände streckten sich ihr entgegen und zogen ihr den BH aus. Ein Gewicht legte sich auf sie. Als sie schließlich doch die Augen schloss, fand sie sich in einer hell erleuchteten Welt wieder, einer Welt voller explodierender Farben und rauschender Dunkelheit.
    »Das ist so seltsam«, sagte sie. Sagte ich. »Hör nicht auf.«

    2
    Irgendetwas krabbelte mir über die Wange. Eine Fliege, unterwegs zu meinem Mundwinkel. Ohne die Augen aufzuschlagen, fegte ich sie mit der Hand weg. Träge brummte sie davon. Auch ohne sie zu sehen, wusste ich, dass es sich um eine jener fetten Spätsommerfliegen handelte, die voll gesogen waren mit Blut und Verfall. Hätte ich sie erschlagen, wäre ein rötlich-brauner Fleck zurückgeblieben.
    Obwohl ich weiter reglos dalag, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Als ich es schließlich schaffte, ein Auge einen Spalt weit zu öffnen, bahnte sich sofort ein stechender Schmerz den Weg in mein Gehirn. Vorsichtig fuhr ich mir mit meiner ausgetrockneten Zunge über die Lippen. Sie fühlten sich geschwollen und rissig an. Außerdem hatte ich einen schrecklichen Geschmack im Mund: nach Schmutz und Fett und kaltem Rauch.
    Die leuchtenden Farben waren inzwischen verschwunden. Ich starrte durch einen düsteren Raum auf eine Tür, an der ein schmuddelig grauer Bademantel hing. Ich wandte den Blick nach links, wo durch die dünnen Vorhänge das schwache Dämmerlicht des frühen Morgens hereindrang. Ich hielt die Luft an und blieb reglos liegen. Hinter mir hörte ich ein gleichmäßiges Atemgeräusch. Ich schloss die Augen wieder und wartete, bis sich meine Träume vollends aufgelöst hatten und ich mich schließlich mit diesem Tag und dieser Person, die ich war, auseinander setzen musste. Ich berührte mein Gesicht, das sich taub und gummiartig anfühlte, fast wie eine Maske. Lautlos zählte ich bis fünfzig, dann öffnete ich beide Augen und wandte vorsichtig den Kopf. Ich spürte, wie sich hinter meiner Stirn ein dumpfer Schmerz ausbreitete und in meine Schläfen flutete.
    Erst nach einer
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