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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe
Autoren: Nicci French
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Körper klebte.
    Dann gingen wir. Jay war dabei, glaube ich, und vielleicht auch der Sänger, und eine Frau mit wundervollem schwarzem Haar, die nach Patschuli roch, und andere Leute, die ich nur als Silhouetten vor dem Nachthimmel in Erinnerung habe. Es war so schön kühl draußen. Ich sog die Luft in meine Lungen und spürte, wie der Schweiß auf meiner Haut trocknete. Wir setzten uns an den Fluss, der schwarz und tief aussah. Man konnte die Wellen leise ans Ufer klatschen hören. Am liebsten wäre ich ins Wasser gesprungen und hätte mich von seiner Strömung bis zum Meer spülen lassen, an einen Ort, wohin mir niemand folgen konnte. Ich warf eine Hand voll Münzen, von denen aber nur ein paar ins Wasser fielen, und forderte die anderen auf, sich etwas zu wünschen.
    »Und was wünschst du dir, Holly?«
    »Dass es immer so ist wie heute«, antwortete ich.
    Ich schob mir eine Zigarette zwischen die Lippen, und einer der Männer beugte sich zu mir herüber, um mir Feuer zu geben, wobei er die freie Hand schützend um das Feuerzeug legte. Ein anderer nahm mir die Zigarette wieder aus dem Mund und küsste mich. Ich zog ihn zu mir heran und erwiderte seinen Kuss, die Hände in seinem Haar. Dann küsste mich plötzlich noch einer, ich spürte seine Lippen an meinem Hals. Ich legte den Kopf zurück und ließ ihn gewähren. Alle liebten mich, und ich liebte alle. Sie hatten alle zärtliche, glänzende Augen. Ich verkündete, dass die Welt ein magischerer Ort sei, als wir meinten. Dann stand ich auf und lief über die Brücke.

    Bei jedem Schritt hatte ich das Gefühl, vielleicht nie wieder auf dem Boden aufzukommen, hörte aber gleichzeitig das Geräusch meiner Schritte wie ein Echo um mich herum, und dann das Geräusch anderer Schritte, die mir folgten, mich aber nicht einholen konnten. Stimmen riefen meinen Namen. Sie klangen wie Eulenrufe. »Holly, Holly!« Ich lachte in mich hinein. Ein Wagen brauste vorüber, hielt mich einen Moment im Licht seiner Scheinwerfer fest.
    In der Nähe einer Arkade mit Geschäften blieb ich schließlich stehen, um Luft zu holen, und dort fanden sie mich. Zwei von ihnen, glaube ich. Vielleicht waren es auch drei. Einer packte mich an den Schultern, drückte mich gegen eine Wand und sagte, endlich habe er mich, und nun werde er mich nicht mehr loslassen. Er sagte, ich sei wild, aber er könne auch wild sein. Er griff nach einem Stein. Sein Arm schwang nach hinten, und gleich darauf sah ich den Stein durch die Luft segeln. Es krachte laut, in der Bleiglasscheibe vor uns breitete sich ein gezackter Stern aus, und in einem Regal stürzte eine Pyramide aus Blechdosen in sich zusammen. Eine Sekunde lang war es, als würden wir gleich durch den Stern in eine andere Welt treten, wo ich ein völlig neuer Mensch sein konnte. Neu und frisch und heil.
    Dann ging der Alarm los, ein hohes Kreischen, das aus jeder Richtung zu kommen schien, und der Mann packte mich am Handgelenk. »Los!«
    Gemeinsam begannen wir zu rennen. Ich glaube, wir waren zu dem Zeitpunkt noch zu dritt, vielleicht aber auch nur noch zu zweit. Unsere Füße schienen sich synchron zu bewegen. Ich weiß nicht, warum wir zu laufen aufhörten, aber ich weiß, dass wir irgendwann in einem Taxi saßen und durch leere Straßen fuhren, vorbei an Läden mit Metalljalousien und dunklen Häusern. Ein Fuchs verharrte mitten in der Bewegung, als er das Taxi kommen sah. Still stand er einen Moment unter den Straßenlampen, ehe er in einen Garten glitt und in der Dunkelheit verschwand.
    Danach geschahen ein paar Dinge, an die ich mich gleichzeitig erinnern und nicht erinnern kann, als wäre das alles einer anderen passiert, in einem Film oder Traum, von dem man weiß, dass man ihn hat, aus dem man aber nicht erwachen kann. Oder als wäre es mir passiert, während ich eine andere war: ich und doch nicht ich selbst. Ich war eine Frau, die lachend vor dem Mann die Treppe hinaufging und oben in einen Raum trat, der von einem schwachen Licht erhellt wurde. Auf einem alten Sofa türmte sich ein Berg Kissen, und von der Decke hing ein Käfig mit einem türkisfarbenen Wellensittich. Zwitscherte da wirklich ein Vogel vor sich hin und blickte mit seinen wissenden Augen auf die Frau hinunter, oder war das eine seltsame Halluzination?
    Jedenfalls schaute diese Frau aus dem Fenster auf Dächer und nächtliche Gärten, die sie noch nie zuvor gesehen hatte.
    »Wo, zum Teufel, bin ich?«, fragte sie, während sie ihre Jacke zu Boden gleiten ließ. Dabei wollte
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