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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe
Autoren: Nicci French
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dass ich grob zu Ihnen war und mich entschuldigen sollte. Nach reiflicher Überlegung bin ich zu dem Schluss gekommen, dass sie Recht hat. Ich bitte also vielmals um Entschuldigung.« Der Blick der Frau wanderte erst zu mir und dann wieder zu ihm.
    Ich glaube nicht, dass sie wirklich begriff, was vor sich ging.
    Der Mann, der Jim hieß, bestellte mir einen doppelten Gin Tonic und einen weiteren für sich selbst.
    »Cheers«, sagte er. »Ach, und übrigens ist sie wirklich eine beschissene Barfrau.«
    Ich kippte meinen Drink hinunter, woraufhin er mir noch einen bestellte. Von da an lief der Abend in immer schnellerem Tempo ab. Es war, als wäre ich den ganzen Tag lang auf dem Rücken eines großen Vogels zu einem Berggipfel hinaufgeflo-gen und genau in dem Moment, als ich Jim das Glas unters Kinn hielt, am höchsten Punkt angekommen, wo sich der Vogel für einen Moment ausruhte und dann im Sturzflug talwärts sauste.
    In der Kneipe kam ich mir allmählich vor wie auf einer Party, wo ich ziemlich viele Leute kannte oder kennen lernen wollte oder sie mich kennen lernen wollten. Ich plauderte mit Jim und seinen Freunden, die die Geschichte mit dem Glas sehr lustig fanden.
    Später unterhielt ich mich mit einem Mann, der in dem Büro uns gegenüber arbeitete. Als er dann mit ein paar Freunden aufbrach, um in einem privaten Klub zu Abend zu essen, fragte er mich, ob ich Lust hätte mitzukommen, und ich sagte Ja. Ab da geschahen die Dinge in schneller Abfolge, wie eine Serie von Schnappschüssen, als würden einzelne Momente von einem blitzenden Stroboskop beleuchtet. Der Klub befand sich in einem Haus aus dem achtzehnten Jahrhundert, wo alles aus abgewetzter Holzvertäfelung und nackten Dielen bestand. Es war ein Abend, an dem alles ganz einfach schien, alles machbar und möglich. Einer der Männer am Tisch, an dem wir aßen, war der Direktor des Klubs, was zur Folge hatte, dass er ständig mit dem Ober scherzte und uns besondere Köstlichkeiten servieren ließ. Ich führte ein langes, intensives Gespräch mit einer Frau, die für eine ganz tolle Firma arbeitete, eine Film- oder Fotoge-sellschaft oder Zeitschrift, auch wenn ich mich später an kein einziges Wort unserer Unterhaltung erinnern konnte. Das Einzige, was mir im Gedächtnis haften blieb, war die Tatsache, dass sie mich, als sie aufstand und ging, mitten auf den Mund küsste, sodass ich ihren Lippenstift schmecken konnte.
    Jemand schlug vor, tanzen zu gehen. Ganz in der Nähe habe etwas Neues aufgemacht, wo es jetzt wahrscheinlich gerade losgehe. Ich warf einen Blick auf meine Uhr und stellte fest, dass es bereits nach Mitternacht und ich schon seit halb sechs Uhr morgens auf den Beinen war. Aber das spielte keine Rolle.
    Wir, eine Gruppe von etwa zehn Leuten, die bis vor etwa einer Stunde noch Fremde gewesen waren, marschierten gemeinsam dorthin. Ein Mann legte unterwegs den Arm um mich und begann auf Spanisch oder Portugiesisch zu singen. Er hatte eine sehr schöne, sonore Stimme. Als ich hochblickte, sah ich, dass am Himmel die Sterne funkelten. Sie leuchteten so hell und nah, dass ich fast das Gefühl hatte, sie berühren zu können, wenn ich den Arm ausstreckte. Ich begann ebenfalls zu singen. Was, weiß ich nicht mehr, aber alle stimmten ein. Lachend hielten wir einander fest. Unsere Zigaretten glühten in der Dunkelheit.
    Am Ende landeten wir wieder ganz in der Nähe des Büros. Ich weiß noch, dass mir durch den Kopf ging, wie sich der Kreis doch manchmal schloss und ich jetzt weniger müde war als zu Beginn des Abends. Ich tanzte mit dem Mann, der auf Spanisch gesungen hatte, dann mit einem anderen, der mir sagte, er heiße Jay, und plötzlich befand ich mich auf der Damentoilette, wo mir jemand eine Linie Koks spendierte. Der Klub war klein und gerammelt voll. Ein Schwarzer mit sanften Augen streichelte mein Haar und flüsterte, ich sei wundervoll. Eine Frau – ich glaube, sie hieß Julia – tauchte neben mir auf und erklärte, sie fahre jetzt nach Hause, und vielleicht sollte ich das auch tun, bevor etwas passiere. Sie schlug vor, mit mir zusammen ein Taxi zu nehmen, aber ich lehnte ab. Ich wollte ja, dass etwas passierte. Dass alles Mögliche passierte. Ich wollte nicht, dass der Abend schon endete. Ich wollte das Licht noch nicht ausschalten. Also tanzte ich weiter und fühlte mich dabei so leicht, als würde ich fliegen. Ich tanzte, bis mir der Schweiß übers Gesicht lief und in meinen Augen brannte, mein Haar feucht war und mir die Bluse am
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