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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe
Autoren: Nicci French
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schmierte mir blauen Lidschatten auf die Augenlider. Und ich erinnere mich noch an die Worte des Pfarrers – » Asche zu Asche, Staub zu Staub « – und daran, dass die Leute weinten und sich gegenseitig festhielten. Ich wusste, dass sie sich auch von mir Tränen gewünscht hätten, denn dann hätten sie einen Arm um mich legen und mich trösten können, aber meinem Vater waren weinende Menschen zuwider gewesen. Er wollte immer, dass wir der Welt ein glückliches Gesicht zeigten. Also lächelte ich während der ganzen Beisetzung, ich glaube, ein paarmal lachte ich sogar ein bisschen, weil alle mich so komisch ansahen. Als der Sarg in die Erde hinuntergelassen wurde, legte meine Mutter, wie es üblich ist, eine einzelne weiße Rose darauf. Ich nahm meine Armbänder ab und warf sie ins Grab, sodass das Ganze ein paar Sekunden lang mehr von einem heidnischen Begräbnis als von einer respektablen englischen Beisetzung hatte. Eines der Armbänder riss, und seine bunten Plastikperlen kullerten wie wild auf dem billigen Holzdeckel herum. Rat-a-tat-tatt, direkt über dem Gesicht meines Vaters.
    Eine Weile glaubte ich, vor Einsamkeit und Zorn wahnsinnig zu werden, auch wenn ich das nie jemandem erzählte, weil mir die Worte fehlten. Zehn Jahre lang versuchte ich zu ihm zurück-zufinden. Voller Verzweiflung. Voller Liebe. Voller Empörung, voller Ausgelassenheit, voller Abscheu und Rachsucht.
    Ich bin zweimal gestorben. Nur zweimal. Aber dank meiner rasenden Bemühungen hätte ich es durchaus ein bisschen öfter schaffen können.
    Hier sind sie nun also. Die Menschen, die mich geliebt und gehasst haben. Diejenigen, die wollten, dass ich lebe, und diejenigen, die sich meinen Tod wünschten. Die mich zu retten versuchten und die mich losließen. Sie machen alle einen glücklichen Eindruck. Hand in Hand stehen sie da und blicken einander in die Augen. Ein paar von ihnen küssen sich. Ich sehe ihnen an, dass sie sich gerade versprechen, das vor ihnen liegende Leben gemeinsam zu meistern. Jene große und geheimnisvolle Reise. Nur einer fehlt.

    MEIN ERSTES STERBEN

    1
    »Gefahr zieht mich magisch an«, sagte er. »Schon seit jeher.
    Was darf ich euch beiden bringen?«
    Ich überlegte einen Moment. Es war bereits eine Stunde her, seit Meg und ich das Büro verlassen hatten, aber ich fühlte mich immer noch ganz aufgedreht. Überdreht. Ich musste an einen früheren Freund denken, einen Schauspieler. Er hatte mir erzählt, dass er nach der Vorstellung immer Stunden brauchte, bis er wieder zur Ruhe kam, was ein kleines Problem darstellte, wenn der Vorhang um halb elf fiel und man den Ehrgeiz hatte, so zu leben wie der Rest der Welt. Am Ende musste er feststellen, dass er hauptsächlich so lebte wie andere Schauspieler, denn das waren die einzigen Leute, die erst um elf zum Abendessen aufbrachen und jeden Tag bis Mittag schliefen.
    Eine Collegefreundin ist Langstreckenläuferin. Ihre Leistun-gen sind so beeindruckend, dass sie fast einmal an olympischen Spielen teilgenommen hätte. Sie rennt unglaublich schnell und weit, um ihren Körper überhaupt in Schwung zu bringen.
    Anschließend läuft sie eine richtig lange Strecke und quält sich extreme Steigungen hinauf. Danach hat sie Schwierigkeiten, ihren Körper auf einen normalen Level zurückzufahren, weswegen sie einfach weiterläuft. Hinterher kühlt sie ihre Muskeln und Gelenke mit Eis. Das könnte mir auch nicht schaden. Manchmal würde ich am liebsten meinen ganzen Kopf in eine klirrend kalte Tonne voll Eis stecken.
    »Das ist doch keine so schwierige Entscheidung«, sagte er.
    »Meg hat schon einen Weißwein in Auftrag gegeben.«
    »Was?«, fragte ich.
    Für einen Moment hatte ich vergessen, wo ich mich befand.
    Ich musste mich erst umsehen, um es mir wieder ins Gedächtnis zu rufen. Es war wundervoll. Obwohl wir schon Herbst hatten, war es ein heißer Abend, und die Gäste der Bar in Soho standen bis hinaus zur Straße. Man hatte das Gefühl, als würde der Sommer nie enden, der Winter niemals kommen, nie wieder Regen fallen. Draußen auf dem Land brauchten die Felder dringend Wasser, Flüsse waren ausgetrocknet, und die Ernte verdorrte allmählich, aber mitten in London kam man sich vor wie am Mittelmeer.
    »Was möchten Sie trinken?«
    Ich bat um einen Weißwein und ein Glas Wasser. Dann legte ich einen Arm um Megs Schultern und murmelte ihr ins Ohr:
    »Hast du mit Deborah gesprochen?«
    Ihr Blick wirkte leicht gequält. Demnach also nicht.
    »Noch nicht«, sagte sie.
    »Wir
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