Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe
Autoren: Nicci French
Vom Netzwerk:
Weile begann ich meine Umgebung richtig wahrzunehmen. Ich lag auf der linken Seite eines Doppelbetts unter einer verdrehten hellen Bettdecke, deren Bezug in der Mitte einen großen, L-förmigen Riss aufwies. Im Raum gab es nur ein einziges, ziemlich hoch liegendes Fenster. Darunter stand ein Heimtrainer, über den eine Jeans und ein BH drapiert waren. Neben der Tür lag eine Sporttasche aus Nylon, darauf ein Squashschläger. Ein Schrank stand halb offen, ein paar auf Bügeln hängende Hemden waren zu sehen. In der Ecke türmte sich ein Zeitschriftenstapel, an dem eine Weinflasche lehnte.
    Unter dem Bett ragte die Spitze eines Sportschuhs heraus, flankiert von einem zusammengeknüllten Papiertaschentuch.
    Nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt stand ein überquellender Aschenbecher, ein Teil der Asche war auf gestreiften Boxershorts gelandet. Ein Digitalwecker mit scheuß-
    lich grünen Leuchtziffern zeigte 4:46. Während ich mich langsam in eine sitzende Position manövrierte, entdeckte ich auf dem Laken ein paar Blutflecken, die aussahen, als wären sie mit zarten Pinselstrichen aufgemalt worden. Den Blick starr geradeaus gerichtet, schwang ich vorsichtig die Beine aus dem Bett. Als ich aufstand, schien der Boden unter mir zu schwanken. Ich befahl mir, mich nicht umzudrehen, aber es war, als würde mein Kopf an einem unsichtbaren Draht hängen, sodass ich einfach nicht anders konnte, als einen kurzen Blick auf die Gestalt im Bett zu werfen. Ich sah haarige Beine, die unter der Bettdecke herausragten, einen dunklen Haarschopf, einen Arm über den Augen, einen leicht offen stehenden Mund. Das war alles. Rasch wandte ich mich wieder ab. Ich wusste nicht, wer er war, wollte es auch gar nicht wissen. Durfte es nicht wissen. Da ich dringend pinkeln musste, schlich ich zur Tür und zog sie vorsichtig auf. Trotzdem gab sie ein leises Ächzen von sich, das mich erschrocken zusammenzucken ließ. Über sandige Holzdie-len huschte ich auf eine weitere Tür zu, die direkt gegenüberlag, doch als ich sie aufschob, musste ich feststellen, dass sie nicht wie erwartet ins Badezimmer führte. In dem Raum gab es einen Teppich, ein Bett und eine Gestalt, die sich umdrehte, den Kopf hob und schlaftrunken irgendetwas murmelte. Erschrocken zog ich die Tür wieder zu.
    Mir war plötzlich kalt und übel.
    Als ich die winzige Toilette endlich gefunden hatte, ließ ich mich zitternd auf der Klobrille nieder. Mein klammer, klebriger Körper fühlte sich an, als würde er mir gar nicht gehören, und es kostete mich gewaltige Anstrengung, wieder aufzustehen und mich ins Wohnzimmer zu schleppen. Dort schlug mir ein penetranter Geruch entgegen: Es stank nach Schweiß wie im Umkleideraum einer Turnhalle und gleichzeitig nach Rauch und Bier wie spätabends in einem Pub. Überall lagen Klamotten herum – seine und meine. Der Tisch war umgekippt, daneben lag eine zerbrochene Tasse. Zwischen verstreuten Kippen stand ein weiterer Aschenbecher. Meine Füße stießen gegen eingedrückte Bierdosen, unter denen ich eine umgefallene Schnapsflasche entdeckte. Ein grellbuntes Bild hing völlig schief an der Wand, und daneben prangte ein rötlicher, verschmierter Fleck. Auf dem Boden bemerkte ich außerdem einen seltsamen Kreis, der aus so etwas wie braunem Reis zu bestehen schien. Plötzlich fiel mir der Wellensittich wieder ein. Ich blickte hoch und sah seinen Käfig über den heruntergefallenen Samenkörnern hängen. Der Vogel schlief.
    Leise zog ich meinen Rock hinter dem Sofa hervor. Meine Bluse fand ich völlig verknittert in einer Ecke des Raums. Sie hatte nur noch einen einzigen Knopf und war unter dem Arm aufgerissen. Einer meiner Schuhe lag unter dem Tisch. Als ich ihn aufhob, stellte ich fest, dass der Absatz wackelte. Nach ein paar Minuten hektischen Suchens entdeckte ich den zweiten draußen auf dem Gang vor dem Badezimmer. Mit angehaltenem Atem schlich ich zurück ins Schlafzimmer und zog meinen BH
    vom Trimmrad. Er roch stark nach Alkohol – wahrscheinlich Schnaps. Plötzlich spürte ich unter der Fußsohle etwas Klebriges und schaute nach unten. Ich stand auf einem benutzten Kondom.

    Vorsichtig zog ich es von meiner Haut und ließ es zurück auf den Boden fallen.
    Ich konnte meinen Slip nicht finden. Entnervt ging ich in die Knie und spähte unters Bett, aber da war er auch nicht. Ich kehrte ein weiteres Mal auf den Gang zurück, wo meine Suche ebenfalls erfolglos blieb. Mir würde wohl nichts anderes übrig bleiben, als ohne zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher