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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe
Autoren: Nicci French
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Abfalleimer, dass sie vollständig von Blechdosen und Kaffeesatz bedeckt war.
    Die Treppe kam mir an diesem Tag so steil vor, dass ich sie auf allen vieren hinaufkriechen musste. Im Badezimmer angekommen, entledigte ich mich meiner restlichen Klamotten, die ich unter die anderen Sachen im Wäschekorb schob. Als ich schließlich einen Blick in den Spiegel warf, musste ich an mich halten, um nicht vor Schreck laut aufzuschreien: Mir starrte eine erschöpfte, schmuddelige, blutverschmierte Frau mit geschwollenen Lippen, roten Augen und verfilztem Haar entgegen. Ich sah aus wie ein Stück Müll.
    Ich drehte die Dusche so heiß auf, dass ich es gerade noch ertragen konnte, und wusch mir die Haare, bis meine Kopfhaut brannte. Dann seifte ich mich von oben bis unten ein und schrubbte meine Haut, als könnte ich eine ganze Schicht wegrubbeln und als völlig neuer, reiner Mensch aus dieser Prozedur hervorgehen. Ich putzte mir die Zähne, bis mein Gaumen blutete, gurgelte hinterher noch mehrfach mit Mund-wasser, massierte mir Creme ins Gesicht, rieb mich mit Körperlotion ein und verteilte Deo unter den Achseln.
    Als ich schließlich ins Schlafzimmer ging, zeigte der Wecker sechs Uhr elf. Nachdem ich mich davon überzeugt hatte, dass er wie üblich auf sieben Uhr zehn gestellt war, glitt ich unter die Bettdecke und schlang die Arme um die Knie.
    »Holly?«, murmelte Charlie. »Wie spät ist es?«
    »Schhh. Schlaf weiter. Es ist alles in Ordnung.«
    Während ich einschlief, ging mir durch den Kopf, dass ich vergessen hatte, meinen Ehering wieder anzustecken.

    3
    »Holly. Holly, ich hab dir Kaffee gebracht. Es ist zwanzig nach sieben.«
    Einen Moment lang blieb ich mit einem Arm über den Augen liegen, weil mir vor dem grellen Morgenlicht graute. Meine Gliedmaßen fühlten sich an wie Blei, mein Mund war ausgetrocknet, in meinem Kopf pochte es, und mein Hals schmerzte.
    Ich konnte dem Tag nicht ins Gesicht blicken. Ich konnte Charlie nicht ins Gesicht blicken.
    »Holly«, wiederholte er.
    Schließlich schaffte ich es doch, den Arm wegzunehmen, die Augen zu öffnen und in sein nettes Gesicht zu sehen, seine braunen Augen, in denen ich keine Spur von Abscheu oder Überraschung entdecken konnte. »Guten Morgen, Charlie. Du bist heute aber schon früh auf.«
    Auf eine lässige, gemütliche Art strahlte er Wärme und Verlässlichkeit aus. Er arbeitete zu Hause, deswegen brauchte er keinen Anzug anzuziehen und keine öffentliche Maske aufzusetzen, wie ich es jeden Tag tue, wenn ich morgens vor dem Spiegel stehe und mich schminke. Lächeln, Holly, immer schön lächeln. Charlie hingegen trug einfach seine alte graue Cordhose und ein langärmeliges senffarbenes Hemd, bei dem der Kragen schon ein wenig ausfranste.
    Ich stützte mich auf einen Ellbogen und nahm einen Schluck von dem Kaffee. Er war stark, heiß und schwarz.
    »Spät geworden gestern?«, fragte er.
    »Irgendwie nahm es mal wieder kein Ende.«
    »Ich hab dich gar nicht kommen gehört.«
    »Du hast geschlafen wie ein Murmeltier. Mein Gott, ist es wirklich schon so spät? Anscheinend habe ich das Läuten des Weckers nicht gehört. Ich komme gleich runter.«
    Während ich noch einmal die Augen schloss, hörte ich ihn den Raum verlassen. Ich hatte gerade mal eine gute Stunde geschlafen, und nun blieben mir noch ungefähr drei Minuten, ehe ich wieder ein Mensch werden musste, um zu all den anderen zu passen, die ebenfalls so taten, als wären sie Menschen. Ich zog mir die Bettdecke über den Kopf und zwang mich, über die Ereignisse des Vorabends nachzudenken. Allerdings fühlte es sich nicht wirklich wie Nachdenken an, sondern eher wie die Schläge eines Boxers, der seine Fäuste gezielt in die weichen Stellen meines Körpers platzierte, wo sie keine Spuren hinterlassen würden. Das Atmen fiel mir schwer. Ich keuchte und hustete, als wäre ich gerade von einer großen Welle an den Strand gespült worden. Ich musste daran denken, wie die Frau –
    ich – letzte Nacht gelacht und geflirtet hatte. Leichtsinnig jeder Versuchung nachgebend. Nein, nicht nachgebend, eher schon nachjagend. Die Königin der Party. Nun schien sie nur noch eine abgewrackte Langweilerin zu sein. Ich stellte mir vor, wie ich in jenem Raum gelegen hatte, jenem anderen Bett, mit dem fremden Mann – wer auch immer er gewesen sein mochte.
    Das ist das Problem mit Liebe und Sex: Die Leute schreiben Lieder und Gedichte oder machen Filme darüber, und wir alle schwärmen und träumen davon, wollen es genauso
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