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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe
Autoren: Nicci French
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sie, während sie in die Diele trat. »Mir ist der Kaffee ausgegangen.«
    »Wir haben jede Menge, und in der Kanne ist auch noch welcher. Trink doch gleich hier eine Tasse.«
    Ihr Blick wanderte nervös zwischen mir und Charlie hin und her. »Wenn ihr wirklich meint …«
    »Ich bin gerade am Gehen, aber Charlie bleibt da.«
    Ich ließ die beiden in der Küche zurück und trat erleichtert auf die Straße hinaus, wo mich niemand kannte.

    Eigentlich mag ich unrealisierbare Projekte, weil die Leute dann dankbar sind, wenn man überhaupt etwas zustande bringt. Bei einer solchen Gelegenheit sind Meg und ich uns vor knapp fünf Jahren begegnet, auch wenn es mir manchmal vorkommt, als würden wir uns schon ein Leben lang kennen. Wir hatten damals beide unseren ersten Job, und zwar als Mädchen für alles in einer schrecklich chaotischen Firma. Eines Tages erschien eine Frau, um sich nach dem genauen Programm für den nächsten Tag zu erkundigen, aber wie sich herausstellte, hatte unser Chef Derek den Auftrag völlig vergessen. Und als wäre das nicht schon genug, verzog er sich auch noch in sein Büro. Nach etwa einer Stunde ging ich, ohne anzuklopfen, hinein und fand ihn weinend vor. Noch heute kann ich mich genau an sein unglückliches, verquollenes Gesicht und seine roten Augen erinnern. Er machte einen derart verzweifelten Eindruck, dass ich zu ihm sagte, er solle sich keine Sorgen machen, wir würden das schon irgendwie regeln. Daraufhin nahm er meine Hand und eröffnete mir, seine Frau sei mit ihrem Raumausstatter durchgebrannt.
    Meg und ich hatten nichts zu verlieren. Wir waren erst zwei-undzwanzig, und alles schien möglich. Als Erstes riefen wir die Frau an und ließen uns von ihr ein paar Einzelheiten über die Firma erzählen. Dann suchten wir uns ein geeignetes Hotel und dachten uns anhand von Anregungen, die wir uns bei verschiedenen Leuten im Büro holten, ein paar Aktivitäten aus. Wir blieben die ganze Nacht auf und bereiteten Kärtchen und kleine Ansprachen vor. Was am nächsten Tag dabei herauskam, war zwar nicht gerade der tollste Betriebsausflug aller Zeiten, aber Meg und ich hatten das Fiasko abgewendet. Meg ist die Gerad-linige in unserem Zweierteam, und Flirten ist nicht ihre Sache.
    Wenn ihr ein Mann gefällt, wird sie linkisch und hektisch, lacht an den falschen Stellen und errötet ständig. Außerdem gibt sie niemals an. Das ist bei mir ganz anders, und wenn ich es tue, mustert sie mich immer mit einem seltsamen Blick, einer Mischung aus Nachsicht und leichter Nervosität.

    Jedenfalls standen wir den ganzen Tag unter Strom, und am Abend ging es in einer Bar weiter. Kurz nach Mitternacht erschien die Frau, von der wir den Auftrag hatten, und umarmte uns. Sie bedankte sich überschwänglich und meinte, ohne uns hätte sie ihren Job verloren. Am nächsten Tag war Derek so gerührt, dass er wieder in Tränen ausbrach. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage saß ich ihm gegenüber, sprach beruhigend auf ihn ein und musterte ihn dabei verstohlen. Ich weiß noch, dass es mir kalt den Rücken hinunterlief. Wir befanden uns beide auf einem Hochseil und taten, als wäre alles ganz einfach. Dabei reichte womöglich ein einziger Blick nach unten
    – die Erkenntnis, dass es kein Sicherheitsnetz gab –, um das Gleichgewicht zu verlieren und zu fallen.
    Und trotzdem war das Ganze zugleich der absolute Höhepunkt meines bisherigen Lebens. Ich habe schon öfter Leute sagen hören, sie würden träumen, auf einer Bühne zu stehen und plötzlich ihren Text nicht mehr zu können. Seit jenem Tag weiß ich, dass das keineswegs mein größter Alptraum ist. Ganz im Gegenteil: Ich suche mir solche Situationen bewusst aus. Mein Alptraum beginnt erst, wenn die Show vorüber ist.
    Ein paar Monate später beschlossen Meg und ich, den Allein-gang zu wagen. Ich hatte noch nie einen Menschen kennen gelernt, den ich so mochte wie sie. Ich glaube, sie war mehr oder weniger die erste Person in meinem Erwachsenenleben, bei der ich nicht das Gefühl hatte, eine Rolle spielen zu müssen. Meg brauchte ich nichts vorzumachen, und ich musste sie auch nicht beeindrucken. Mir war von Anfang an klar, dass sie ein gutes Herz besaß, und auf eine ganz merkwürdige Art fühlte ich mich in ihrer Gegenwart immer wie ein besserer Mensch – oder zumindest ein nicht ganz so schlechter.
    Wir hätten unserer Firma irgendeinen schönen New-Age-Namen geben können, zum Beispiel Swish oder Enthrall oder Aspire, aber am Ende blieben wir bei KS
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