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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe
Autoren: Nicci French
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gehen. Auf jeden Fall musste ich hier raus, bevor der Mann oder die Person im anderen Raum – oder gar der Vogel – aufwachte und mich entdeckte. Rasch schlüpfte ich in Rock und BH, streifte die dünne, zerrissene Bluse über, die ich mangels Knöpfen vorne zu einem Knoten zusammenband, und zwängte meine wunden Füße in die wackeligen Schuhe.
    Oben drüber kam die Jacke, aber leider handelte es sich um so ein dämliches Kleidungsstück, das nur einen einzigen dekorativen Knopf besaß und deswegen die Bescherung darunter kaum verhüllte. Ich sehnte mich danach, in einem warmen Flanellpy-jama unter einer sauberen Bettdecke zu liegen, frisch geduscht, den Pfefferminzgeschmack von Zahnpasta im Mund … meine Tasche, wo war meine Tasche? Ich fand sie gleich neben der Eingangstür. Nachdem ich ihren halb herausgefallenen Inhalt wieder hineingestopft hatte, verließ ich rasch die Wohnung, zog die Tür leise hinter mir zu und eilte die Treppe hinunter. Erst als ich draußen auf der Straße stand, wurde mir bewusst, wie müde und erschöpft ich war. Einen Moment lang musste ich mich vornüberbeugen, um wieder zu Atem zu kommen.
    Wo war ich? Ich ging bis zu dem Schild am Ende der Straße.
    Northingley Avenue, SE7. Wo war das? In welche Richtung musste ich mich wenden, um möglichst schnell von hier wegzukommen? Laut meiner Uhr – die sich wie durch ein Wunder noch an meinem Handgelenk befand – war es inzwischen zehn nach fünf. Ich ließ den Blick die Straße entlangschweifen, als bestünde die Hoffnung, dass plötzlich ein Taxi auftauchen würde. Dann holte ich tief Luft und marschierte aufs Geratewohl los. Ich hatte das Gefühl, überhaupt nicht voranzukommen. Alles schien noch genauso weit entfernt zu sein wie vorher. Es war kalt und noch nicht ganz hell. Ich kroch wie eine Schnecke an den unbeleuchteten Häusern vorbei.
    Schließlich erreichte ich eine Straße, in der es ein paar Geschäfte gab, und eines davon, ein Zeitungsladen, öffnete gerade.
    Ich tauchte unter dem halb hochgezogenen Gitter hindurch und trat auf die Ladentheke zu, hinter der ein Mann damit beschäftigt war, Zeitungen zu stapeln. Als er von seiner Arbeit hochblickte, riss er erschrocken die Augen auf.
    »Was …?«, stotterte er. »Sind Sie überfallen …?«
    »Können Sie mir bitte sagen, wie ich zur nächsten U-Bahn-Station komme?«, fiel ich ihm ins Wort.
    Aus seinem Blick sprach plötzlich so etwas wie Ekel. Ich versuchte meine Jacke weiter zuzuziehen und dabei möglichst lässig dreinzublicken.
    »Sie brauchen nur in diese Richtung weiterzugehen. Etwa siebenhundert Meter.«
    Ich erstand eine Flasche Wasser und ein Päckchen Taschentü-
    cher.
    »Danke«, sagte ich, nachdem ich das Geld aus der Tasche gefischt hatte. Der Mann starrte mich bloß an. Ich versuchte zu lächeln, aber es gelang mir nicht. Es war, als wäre mein Mund zu verkrampft, um sich zu bewegen.

    Am frühen Morgen fahren seltsame Leute mit der U-Bahn.
    Diejenigen, die nach einer langen Nacht nach Hause wanken, treffen mit jenen zusammen, die bereits – wenn auch noch etwas schlaftrunken – in den neuen Tag starten.
    Während ich am Bahnhof auf den ersten Zug wartete, ließ sich neben mir ein Typ mit wundervollen langen Dreadlocks nieder und begann auf seiner Mundharmonika zu spielen. Ich wollte ihm ein bisschen Kleingeld geben, aber er erklärte mir, er sei kein Bettler, sondern ein wandernder Musikant, und ich sei ganz offensichtlich eine Dame in Not. So überließ ich ihm meine Zigaretten, wofür er sich mit einem Handkuss bedankte. Meine Fingerknöchel waren aufgeschürft, meine Nägel dreckig.
    Als ich schließlich im Zug saß, schüttete ich ein wenig Wasser auf ein paar Papiertaschentücher und tupfte damit in meinem Gesicht herum. Wimperntusche, Blut. Ich versuchte im Fenster einen Blick auf mein Spiegelbild zu erhaschen, sah aber nur einen blassen, verschwommenen Fleck. Ich kämmte mich noch rasch und stieg dann in die Northern Line um.
    Um zehn vor sechs traf ich vor meiner dunkelgrünen Haustür ein. Ich fühlte mich, als wäre ich einen hohen Berg hinaufge-stiegen und anschließend noch einen Marathon gelaufen, um an mein Ziel zu gelangen. Zitternd schloss ich auf, trat in die Diele und ließ meine Tasche neben der Metallstaffelei und den noch ungeöffneten Farbdosen fallen. Nachdem ich meine Schuhe in eine Ecke gekickt hatte, ging ich in die Küche und trank dort gierig zwei Gläser Wasser. Dann zog ich meine Bluse aus und stopfte sie so tief in den
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