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Was wir Liebe nennen

Was wir Liebe nennen

Titel: Was wir Liebe nennen
Autoren: Jo Lendle
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    Morgens um drei durch Osnabrück zu laufen war wie ein S paziergang durchs Universum kurz vor dem Urknall. Alles war ganz eins mit sich, ganz dicht und bewegungslos. Kein Laut ringsherum, kein Wort. Es gab nichts als die Neugier, von welcher Seite Gott die Bühne betreten würde, um das Licht von der Finsternis zu scheiden, den Himmel von der Erde, die Frau vom Mann. Bislang jedoch war, so weit das Auge reichte, von Gott nichts zu sehen.
    Lambert nahm die Tasche auf die andere Schulter. Er war nicht in Eile. Die dunklen Häuser, die Bäume am Straßenrand, sogar das Stoppschild an der Kreuzung vor ihm wirkten noch lebloser als am Tage. Es sah nicht aus, als würden sie schlafen. Es sah aus, als wären sie nicht einmal geboren. Noch war alles möglich.
    Er lief bis zum Ortsausgang, wo nach einer Viertelstunde der erste Wagen kam und hielt, ein altes Molkereifahrzeug, das auf dem Seitenstreifen ausrollte. Lambert lief hinterher, bekam die Beifahrertür kaum auf und fragte außer Atem, ob er ein Stück mitfahren könne, zum Flughafen. Aber der dicke Fahrer winkte ihn einfach herein, ihm werde die Milch ja sauer bei dem Geschwätz.
    Lambert zog sich hoch in die Kabine. Der Fahrer nickte ihm zu und klopfte mit der Hand auf den Beifahrersitz. Ein rundes Gesicht, sein Seitenscheitel legte sich flach über die Stirn wie die kalte Flosse eines Seehunds.
    Lambert schnallte sich nicht an. Kurz fielen ihm, als er ins Polster des Sitzes sank, die Lider zu, er hörte das Geräusch des startenden Motors und s pürte, wie der Wagen anfuhr. Wenn er ehrlich war, hatte er seit Jahren nicht mehr darüber nachgedacht, woher die Milch kam. Als Junge war er zu Besuch auf einem Bauernhof gewesen, hatte gewartet, bis er allein im Pferdestall war, und dann einer Stute an die Zitzen gefasst. Sein Schreck darüber, dass sie warm waren. Er hatte versucht, Milch herauszubekommen und an den haarigen Zipfeln gezogen, bis das Tier auf einmal den Kopf gedreht und ihn mit seinen nassen Augen so fragend angesehen hatte, dass er von Scham überwältigt aus dem Stall gelaufen war.
    Erstaunlich, dass man Milch noch immer im Molkereiwagen durch die Gegend fuhr, dass sie nicht längst eine zeitgemäßere Lösung gefunden hatten, ein Röhrensystem oder irgendetwas Digitales. Lambert schlug die Augen auf und sah hinaus in die Nacht. Ihm konnte nichts geschehen.

    Die leere Straße war ein Teil der Felder ringsherum, nicht weniger still, nicht weniger flach. Ein Teil der Natur, im selben Schwarz wie die Wiesen und Sümpfe, durch die sie fuhren. Keine Sterne, der Himmel verhangen wie immer. Das einzig Helle war die Doppelzunge der Scheinwerfer, die vor ihnen über die Fahrbahn strich. Und die Anzeige des Radios. Auf Mittelwelle sang jemand vom Orbit. Dies also war Lambert auf großer Fahrt. Noch immer wusste er nicht, ob die Nadelstreifen seines neuen Anzugs angemessen waren, für gestern, für heute. Hier im Dämmerlicht leuchteten sie nur schwach, ein trügerischer, quecksilbriger Glanz. Am Rück s p iegel baumelte ein Duftbaum im Takt der Musik. Wildapfel .
    Manchmal brummte der Fahrer auf, es war nicht zu erkennen, ob er das Lied begleitete oder einfach vor sich hin grummelte. Vielleicht schnarchte er auch. Lambert wollte es nicht hoffen. Wie lange würde es dauern, auf diese Weise die Erde zu umkreisen?
    Plötzlich legte der Fahrer seine Hand auf Lamberts Oberschenkel. Der Moment, als nur diese Hand zu sehen war, knöchrig und alt auf dem schwarzen Stoff der Hose, und Lambert einfach nicht verstand, was sie auf seinem Bein zu suchen hatte. Dann griff er neben die Sitzbank und zog die Handbremse bis zum Anschlag. Der Wagen schlingerte, sie hielten mitten auf der Fahrbahn.
    Beim Hinaus s pringen stellte Lambert sich vor, den Mann seinen Duftbaum fressen zu lassen, mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der der Alte ihn angefasst hatte. Aber er verabscheute Gewalt. Stattdessen zeigte sich, dass der Verschluss des Milchtanks nicht gesichert war. Eine halbe Stunde lang folgte Lambert dem weiß ge s prenkelten Streifen auf der Fahrbahn, der in der Dunkelheit strahlte. Dann s prang er über die Leitplanke und lief das letzte Stück zum Flughafen über die Wiesen. Er lag gut in der Zeit.
    Er hatte Andrea nicht mehr geweckt, aber er hatte ihr einen Zettel hingelegt. Melde mich, wenn ich dort bin. Ich liebe dich. Lambert. Auf der Herrentoilette hinter der Abfertigung
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