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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe
Autoren: Nicci French
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verhilft ihm zu einem dicken Scheck. Aber er hat das Kleingedruckte nicht gelesen. Es hätte nicht funktioniert. Im Fall eines Selbstmords –
    das ist ja eigentlich klar – zahlen die Versicherungen nicht. Der arme Charlie. Er hat sogar noch als Mörder versagt.« Sie drückte wieder meine Hand und überließ mich dann den neu eingetroffenen Gästen.
    Von da an erhaschte ich nur gelegentlich einen Blick auf sie.
    Immer befand sie sich in einem anderen Teil des Gartens und unterhielt sich mit allen möglichen Leuten. Dann sah ich sie eine Zeit lang gar nicht. Ich schaute mich um, konnte sie aber nirgendwo entdecken und fragte mich, ob sie womöglich schon nach Hause gegangen war. Dann dachte ich wieder an andere Dinge, wurde in andere Gespräche verwickelt und vergaß sie für eine Weile.
    Ich stand gerade in der Küche und schwelgte mit einer alten Schulfreundin in Erinnerungen, als plötzlich jemand von hinten die Arme um mich schlang. »Na, geht es dir gut?«, fragte Todd.
    »Wundervoll.«
    »Ich erfahre schön langsam, was für aufregende und interessante Dinge du schon erlebt hast«, erklärte er.
    »Um Gottes willen, mit wem hast du denn gesprochen?«, fragte ich leicht beunruhigt.
    »Mit allen«, antwortete er grinsend. Dann warf er einen Blick auf die Uhr. »Weißt du eigentlich, wie spät es schon ist?«
    »Nein.«
    »Gleich Mitternacht. Ich wollte –«
    Er kam nicht mehr dazu zu sagen, was er wollte, weil es in dem Moment eine höchst seltsame Explosion gab und das ganze Haus wackelte. In einem Anfall von Panik fragte ich mich, ob es sich womöglich um einen Terroranschlag handelte. Dann sah ich, dass durch die offen stehende Terrassentür Rauch herein-wehte. Todd und ich rannten nach draußen. Die Leute im Garten unterhielten sich aufgeregt und deuteten zum Haus hinauf. Wir drehten uns um und blickten nach oben. Aus einem Fenster im obersten Stockwerk quoll Rauch, der wie schaumiges braunes Wasser am Haus entlang nach unten strömte. Dann tauchten zwei Gesichter auf, rußgeschwärzt wie die von Schornsteinfe-gern.
    »Was zum …?«

    Hier sind sie nun also. Die Menschen, die mich geliebt und gehasst haben. Diejenigen, die wollten, dass ich lebe, und diejenigen, die sich meinen Tod wünschten. Die, die mich zu retten versuchten und die, die mich losließen. Sie machen alle einen glücklichen Eindruck. Hand in Hand stehen sie da und blicken einander in die Augen. Ein paar von ihnen küssen sich.
    Ich sehe ihnen an, dass sie sich gerade versprechen, das vor ihnen liegende Leben gemeinsam zu meistern. Jene große Reise.
    Nur einer fehlt.
    Manchmal kommt es mir vor, als hätte Charlie nie existiert, als wäre er nur ein Traum, aus dem ich aufgewacht bin, eine Gestalt, die in meinem wirren Kopf langsam zu einem Nichts verblasst. In gewisser Hinsicht trifft das tatsächlich zu. Es ist so, wie ich vor ein paar Minuten zu Meg gesagt habe: Der Charlie, in den ich mich verliebt habe, war eine Phantasiegestalt – und ihm ging es mit mir wohl ähnlich. Er war der Mann, der mich vor mir selbst retten sollte. Wie meine Therapeutin in jeder unserer dämlichen Sitzungen mindestens dreimal sagt: » Sie sind der einzige Mensch, der Ihnen helfen kann, Holly. « Sie verwendet meinen Namen in jedem Satz – » Wie denken Sie darüber, Holly? « , » Wie erklären Sie sich das, Holly? « Am liebsten würde ich ihr sagen, dass ich auch in dem Kurs war, in dem man den richtigen Umgang mit Menschen lernt. Wie sehr es mich inzwischen langweilt, dass wir immer nur ein Thema haben: mich, mich, mich. Es ist ja schön und gut, ständig nach innen zu blicken und die dunklen und geheimnisvollen Labyrinthe im eigenen Kopf zu erforschen, aber was ist mit der wundervollen Welt draußen? Was ist mit der Dichtung, der Musik, der Leidenschaft, dem grünen Meer? Aber dann denke ich an meine Freunde, meine Familie. Ich denke an die liebe Meg, die selbst heute, am Tag ihrer Hochzeitsfeier, immer mal wieder einen Blick in meine Richtung wirft, um zu sehen, ob es mir gut geht.
    Deswegen mache ich weiter. Ich nehme weiter meine Tabletten, gehe zum Sport und in meine Gesprächstherapie. Ich möchte kein drittes Mal sterben. Jedenfalls noch nicht jetzt. Ich spare mir den Tod für später auf.
    Meg fragt mich manchmal, ob mir meine schwankenden Stimmungen fehlen. Ihr Gesicht wirkt dann so angespannt und ängstlich, dass ich meist ganz schnell das Thema wechsle. Die Wahrheit ist natürlich, dass sie mir sehr wohl fehlen. Sie fehlen mir, wie einem ein
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