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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe
Autoren: Nicci French
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genommen«, sagte ich und sah ihn dabei direkt an. »Das war dein Freibrief für einen ungestraften Mord, stimmt’s? Sobald du es geschafft hattest, Hollys zweiten Selbstmord zu inszenieren, brauchtest du nur noch die oberste Zeile abzureißen und ein paar Buchstaben auszuradieren beziehungsweise hinzuzufügen, und schon würde kein Mensch Fragen stellen. Aber jetzt beweist dieser Brief das Gegenteil. Er beweist, dass du es warst.«
    Nun folgte eine lange Pause. Vorsichtig verfrachtete der Beamte erst den Brief und dann meinen Abschnitt in die Klarsichthülle, wobei er beides nur ganz außen am Rand anfasste.
    »Hasst du sie wirklich so sehr, Charlie?«, fragte ich.
    Charlie blickte hoch. »Ob ich sie hasse?« Das klang fast, als würde er mit sich selbst sprechen. »Ich habe ein Jahr lang hinter ihr hergeräumt. Ich war nüchtern, wenn sie betrunken war. Ich musste mich mit den Typen herumschlagen, mit denen sie Stress gehabt hatte. Oder Sex. Sie hat mal versprochen, alles für mich zu tun, und damals hat sie es auch so gemeint. Aber was hat sie wirklich getan? Sie hat unser ganzes Geld ausgegeben, und dann auch noch Geld, das wir gar nicht besaßen. Und dann hat sie nur so zum Spaß noch eine ganze Menge verspielt. Jeden Tag hat sie Sachen gemacht, die ich mir nie hätte erlauben können. Jedenfalls weiß ich nicht, wie man über so etwas hinwegkommen soll.
    Sie hat mir Dinge angetan, die mir mein schlimmster Feind nicht hätte antun können. Als ich sie kennen lernte, war ich jemand, aber sie hat alles zerstört, was ich war, alles kaputtgemacht, worin ich gut zu sein glaubte. Hass? Liebe? Ich kenne den Unterschied nicht mehr, Meg. Es sind sowieso nur Worte. Ich wollte nur noch, dass das alles ein Ende hat. Ich konnte es nicht mehr ertragen. Ich wollte wieder frei sein, ich selbst sein können.«
    Ich spürte, wie mein Mitleid sich verflüchtigte und an seine Stelle Abscheu trat: Charlie empfand schon genug Mitleid für sich selbst.
    »Mr. Carter«, sagte der kräftig gebaute Polizeibeamte.
    »An diesem Punkt muss ich Sie darauf hinweisen, dass alles, was Sie –«
    »Ich möchte sie sehen«, unterbrach ihn Charlie.
    Ich drehte mich zu Todd um. »Lass uns gehen.«
    Hand in Hand verließen wir den Raum.

    40
    Ich hörte eine Stimme, eine Stimme, die ich kannte, und einen Moment lang stand ich ganz still und gab mich den Erinnerungen an jene Zeit hin.
    »Ich nehme die weißen Rosen dort.« Mehr sagte sie nicht, aber ich wusste sofort, wer diese Worte sprach.
    Es war ein Freitagnachmittag im September, einer jener herrlich frischen, blauen Herbsttage, an denen es in der Sonne noch schön warm ist und im Schatten schon richtig kalt. Einer jener Tage, an denen sich Sommer und Herbst begegnen. Ich kaufte in Soho für das Fest ein und ließ mir dabei Zeit, die Gerüche und Geräusche auf mich wirken zu lassen. Ich war vor dem Blumen-stand stehen geblieben und konnte mich nicht entscheiden, ob ich die bronzefarbenen Chrysanthemen oder die Freesien nehmen sollte. Meine Gedanken waren noch mit einer Menge anderer Dinge beschäftigt – dem Käsestand, dem Obststand, den Leuten, die bisher nicht auf die Einladungen reagiert hatten, der Frage, was wir abends essen sollten –, aber nachdem die Frauenstimme diese sechs Worte ausgesprochen hatte, trat alles andere in den Hintergrund, und ich befand mich wieder in der Geschichte, von der ich geglaubt hatte, sie wäre endgültig vorbei. Fast widerwillig drehte ich mich um.
    Ich erkannte sie kaum wieder. Sie trug einen dicken rosafarbe-nen Tweedmantel und spitze schwarze Wildlederstiefel mit dünnen hohen Absätzen. Ihr Haar war länger und glatter, ihre Haut makellos. Alles an ihr wirkte auf eine teure und selbstbewusste Art schick. Sie sah nicht mehr aus wie eine Krankenschwester mit einem überzogenen Konto. Ihre eigenar-tigen, hellbraunen Augen aber waren unverkennbar. Sie starrte mich über die Blumen hinweg an. Für einen kurzen Moment sah ich in ihrem Blick so etwas wie Angst oder Feindseligkeit aufflackern, aber dann zwang sie sich zu einem Lächeln.
    »Meg, oder? Meg Summers.«
    »Naomi«, sagte ich. »Wie geht es dir?«
    »Gut. Besser gesagt, den Umständen entsprechend. Man kommt über so etwas nicht so schnell hinweg, aber ich habe mir gesagt, dass ich stark sein und mein Leben weiterleben muss und mich nicht auch noch zu seinem Opfer machen lassen darf.
    Es war schrecklich, nicht?«
    Nun wirkte ihr Blick ernst und traurig.
    »Ich habe versucht, mich mit dir in
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