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Der Feind in deiner Nähe

Titel: Der Feind in deiner Nähe
Autoren: Nicci French
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antwortete ich seufzend. Ich beugte mich darüber. Es war ein sehr kurzer Brief, nur ein paar Zeilen lang.
    Das Papier sah aus, als wäre ein Stück abgerissen worden, und Holly hatte sehr weit oben zu schreiben begonnen, als hätte sie vorgehabt, einen langen Text zu verfassen, und dann einfach aufgehört, weil es nichts mehr zu sagen gab. »Es tut mir so Leid.
    Wirklich sehr, sehr Leid. Ich möchte nur, dass das alles aufhört.
    Vergib mir, mein bester und einzig wahrer Freund. In Liebe, Holly.«
    »Nein«, sagte ich. »Das kann nicht sein. Da stimmt etwas nicht.«
    Ich spürte Todds beruhigende Hand auf meiner Schulter.
    »Da stimmt etwas nicht«, wiederholte ich. »Da ist irgendetwas faul. Ich verstehe das nicht.«
    »Du hast das Richtige getan«, meinte Todd. »Du hast Holly das Leben gerettet.« Er sah zu Charlie und wiederholte in ein wenig ungehaltenem Ton: »Sie hat ihr das Leben gerettet, stimmt’s?«
    Charlies Gesicht wirkte starr wie eine Maske. An die Polizeibeamten gewandt, sagte er: »Ich wäre auch noch rechtzeitig gekommen. Ich hätte sie noch retten können.«
    »Du bist ein Lügner und ein Mörder.«
    »Bitte bringen Sie Ihre Freundin nach Hause«, forderte einer der Beamten Todd auf. »Sie ist durcheinander.«
    Ohne etwas zu sagen, führte Todd mich hinaus, und wir stiegen in den Wagen. Er schob den Schlüssel ins Zündschloss.
    Bevor er ihn umdrehte, beugte er sich zu mir und küsste mich.
    »Können wir?«, fragte er sanft.
    »Warte«, antwortete ich.
    »Warum?«
    »Da ist noch irgendetwas«, antwortete ich. »Etwas … ich kann es nicht … es ist …«
    »Meg –«
    »Sei still. Entschuldige. Aber sei einen Moment still.«
    Ich drückte die Finger fest an die Schläfen. Irgendetwas war da im Kommen. Ich wusste, dass es kam, auch wenn ich mir nicht ganz im Klaren war, worum es sich handelte. Ich musste daran denken, wie es war, wenn man in der Londoner U-Bahn auf dem Bahnsteig stand und ein Zug einfuhr. Erst hört man noch gar nichts, man spürt es nur. Obwohl der Zug noch fast einen Kilometer weg ist, weht einem aus dem Tunnel warme Luft entgegen, und ein paar Papierfetzen werden hochgewirbelt.
    In meinem Kopf wirbelte auch etwas herum, aber ich kriegte es noch nicht zu fassen. Dann hatte ich es plötzlich. Ja. Ja.
    Ich schob die Hände in die Taschen meiner Jacke. Dieselbe Jacke hatte ich auch schon die vergangenen Tage getragen. Ja, da war es. Ich brauchte gar keinen Blick darauf zu werfen, ich wusste es auch so. »Ich muss noch mal rein«, erklärte ich.

    »Nein, Meg, sei nicht albern.«
    »Ich muss.«
    Todd lief tatsächlich hinter mir her. Ich glaube, er war der Meinung, dass ich nun endgültig durchgedreht war, und versuchte sogar, mich zurückzuhalten, aber ich schüttelte ihn ab.
    Als der Beamte die Tür öffnete, ließ seine Miene keinen Zweifel daran, dass er nicht im Mindesten erfreut war, mich zu sehen.
    Sie waren gerade am Aufbrechen. Charlie trug noch immer seinen Mantel und spielte den betrübten Ehemann, der sich auf den Weg machte, seinen Platz am Bett seiner Frau einzunehmen.
    Die Nachricht lag noch auf dem Küchentisch.
    »Miss Summers, haben Sie etwas vergessen?«
    »Nein, ganz im Gegenteil«, antwortete ich. »Mir ist etwas eingefallen.« Ich sah den Polizeibeamten an. »Haben Sie die Nachricht gefunden?«
    »Es tut mir Leid«, erwiderte er. »Ich dachte, das hätten wir geklärt.«
    »Haben Sie die Nachricht gefunden?«
    Er stieß einen ungeduldigen Seufzer aus. »Ja.«
    »Wo haben Sie sie gefunden?«
    »Auf dem Fahrersitz«, antwortete er leicht gereizt.
    »Und das war ihr Abschiedsbrief?«
    »Ja.«
    »Aber nicht für diesen Selbstmord.«
    Der Beamte starrte mich einen Moment irritiert an.
    »Wie meinen Sie das?«, fragte er dann.
    Ich zog den abgerissenen Papierfetzen aus meiner Tasche.
    Den, den ich unter Charlies Schreibtisch gefunden und als Schmierzettel verwendet hatte, um mir die Nummer des Reisebüros zu notieren. Ich fügte ihn mit dem Brief auf dem Tisch zusammen. Er passte perfekt.

    »›Meine liebe und treue Freundin Meg‹«, las ich vor. »Dieser Brief war für mich bestimmt.«
    »Was, zum Teufel, ist das?«, fragte Charlie. »Das ist doch Blödsinn!«
    »Nein, ist es nicht«, entgegnete ich. »Holly hat mir nach ihrem Selbstmordversuch erzählt, sie habe mir einen Abschiedsbrief geschrieben, der aber nicht gefunden worden sei. Ich nahm an, dass er in dem ganzen Chaos verloren gegangen war. Aber das stimmte nicht. Charlie hatte ihn genommen. Du hast ihn
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