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Laqua - Der Fluch der schwarzen Gondel

Laqua - Der Fluch der schwarzen Gondel

Titel: Laqua - Der Fluch der schwarzen Gondel
Autoren: N Blazon
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Der rote Palazzo

    »SARA! KOMM ENDLICH vom Fenster weg und setz dich zu uns an den Tisch«, sagte Nonna streng.
    Sara zögerte zwar, aber schließlich gehorchte sie ihrer Großmutter. Das war wirklich erstaunlich, fand Kristina. Normalerweise ließ ihre Tante Sara sich von niemandem etwas sagen. Aber wenn die Großmutter – »Nonna«, wie sie auf Italienisch hieß – etwas befahl, dann traute sich offenbar niemand zu widersprechen.
    »Ich wollte nur sehen, ob die Fenster fest verschlossen sind«, murmelte Tante Sara und setzte sich wieder an den Tisch. »Bei dem Sturm muss man ja Angst haben, dass die Scheiben davonfliegen.«
    Das stimmte. An diesem Winterabend schneite es nicht in Venedig, es gewitterte und stürmte, dass die Fensterscheiben nur so zitterten. Und auch sonst war es das gruseligste Weihnachten aller Zeiten. Das Hotel Dandolo war bis zum Januar geschlossen. Die zwölf Gästezimmer standen also leer, was den alten Palazzo wie ein Spukhaus wirken ließ. Sara hatte sich zwar alle Mühe gegeben, Nonnas Wohnzimmer im dritten Stock in aller Eile festlich herzurichten, aber hier nützte auch kein Weihnachtsschmuck.
    »Es sieht trotzdem aus wie in Draculas Gruft«, hatte Jan Kristina heimlich zugeflüstert. Und ausnahmsweise war Kristina mit ihrem jüngeren Bruder einer Meinung. In dem alten Gemäuer zog es, dass die Kerzenflammen flackerten und die lila Vorhänge sich leicht bewegten. Nonna hatte jeden einzelnen Fenstergriff im Hotel mit Silberkordeln umwickelt, an denen Glasperlen aufgefädelt waren. Die losen Enden dieser Kordeln schwangen in der Zugluft sacht hin und her, als würden Geisterkatzen vorsichtig mit ihnen spielen. Im Hintergrund schmetterte ein altes Radio italienische Schlager und neben dem Tisch erhob sich ein giftgrüner Weihnachtsbaum aus Plastik. Die Lichterkette, die ihn umschlang, erinnerte an eine leuchtende Schlange, die den armen Plastikbaum erwürgen wollte. Sie hatte einen Wackelkontakt und flackerte, und das machte jedes Mal: dzzzzd, dzzzd, dzzzd.
    »Na dann, Buon Natale «, sagte Nonna und hob ihr Glas. Es klang genauso fröhlich, als würde sie einer Beerdigung beiwohnen.
    »Frohe Weihnachten«, antworteten Sara, Jan und Kristina brav wie aus einem Mund. Sara bemühte sich sogar um ein Lächeln, was ihr nicht gut gelang. Kristina wusste nicht, was los war, aber Tante Sara war schon seit ihrem Wiedersehen vor zwei Tagen blass und niedergeschlagen. Auch jetzt waren ihre Augen gerötet und ein wenig verschwollen, als hätte sie heimlich geweint.
    Kristina nahm einen Schluck von dem Orangensaft und beobachtete über den Rand ihres Glases, wie ihre Urgroßmutter an dem Wein nippte. Mit ihrer spitzen Nase, dem dünnen Hals und ihren flinken Bewegungen erinnerte die kleine alte Dame ein bisschen an einen Vogel. Dazu passten auch das violette Strickkleid und der fedrig-flauschige Schal – ebenfalls lila. Sogar die weißen Haare hatten einen fliederfarbenen Schimmer. Sie sah genauso aus wie auf den Fotos im Familienalbum zu Hause.
    Sara dagegen sah sich heute gar nicht ähnlich. Kristina und Jan hatten ihre Tante in den letzten sechs Jahren, seit sie bei ihnen ausgezogen war, meist nur noch auf Fotos gesehen, die sie aus allen Ecken der Welt schickte. Auf den Fotos trug Sara stets einen orangefarbenen Overall und eine Schwimmweste. Mit zerzaustem Haar, einem breiten Lächeln und kämpferisch funkelnden Augen saß sie in irgendeinem Schlauchboot, um die Wale zu retten. Und wenn sie nicht mit Greenpeace unterwegs war, sondern auf Stippvisite bei ihrem großen Bruder Flavio – Kristinas Vater –, sah man sie nur in Jeans, Sneakers und zu großen Schlabberpullis. Für etwas anderes hatte sie ohnehin keinen Platz, sie besaß in ihrer WG in Berlin keinen Kleiderschrank, sondern nur einen großen Koffer. Kristina kam sie gar nicht vor wie eine Tante – eher wie eine ältere Schwester. Und das lag nicht nur daran, dass Sara erst zweiundzwanzig war. Schließlich hatte Sara seit dem Unfalltod ihrer Eltern vor zwölf Jahren bei ihrem erwachsenen Bruder in Deutschland gelebt, bis sie dann noch sehr jung dort ausgezogen war. Zu diesem Zeitpunkt waren Kristina fünf und ihr Bruder Jan drei Jahre alt gewesen.
    Aber heute Abend sah ihre junge Tante ausnahmsweise einmal richtig erwachsen aus. Sie trug eine goldbraune Seidenbluse zu einem feinen Samtrock und hatte sogar versucht, ihre störrischen dunklen Locken zu einer hübschen Frisur zu kämmen. Eine Silberspange, die Nonna ihr geschenkt hatte,
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