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Der Fall Collini

Der Fall Collini

Titel: Der Fall Collini
Autoren: Ferdinand von Schirach
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legen würden. Sie rauchten und redeten, und sie waren lebendig. Als sie Caspar sahen, warfen sie die Zigaretten zu Boden und traten sie aus. Er wollte sie nicht stören und ging auf den Friedhof zur Grabkapelle. Er setzte sich auf eine Bank aus Marmor und sah dort im Halbschatten der Beerdigung zu.
    Hans Meyer begrub seinen Sohn, seine Schwiegertochter und seinen Enkel. Er stand steif neben den Gräbern, Johanna stützte ihn. Vier Stunden lang nahm er die Kondolationen entgegen, sprach mit jedemein paar freundliche Worte. Dann ging er nach Hause und schloss sich in seinem Arbeitszimmer ein. Johanna ließ sich sofort zum Flughafen bringen, sie wollte mit niemandem sprechen.
    Caspar besuchte Hans Meyer am Abend in seinem Büro. Er fragte den alten Mann, ob sie Schach spielen sollten, so wie früher. Schweigend spielten sie, irgendwann hörte Hans Meyer auf. Er öffnete die Fenster und sah in den schwach erleuchteten Park.
    »Es ist passiert, als ich ein kleiner Junge war, vielleicht acht oder neun Jahre alt«, sagte Meyer. Er redete, ohne sich umzudrehen. »Ich hatte ein rotblaues Hemd. Es hatte Farben, die wirklich leuchteten, keine Ahnung, was das für Material war. Mein Onkel hatte das Hemd aus Italien mitgebracht. Ich habe das neue Hemd angezogen und bin rüber in die Reitanlage. Damals war ich fast jeden Tag dort, ich mochte die Pferde sehr. Draußen auf der Koppel war das Springpferd meiner Mutter, ein nervöses Tier. Es hatte schon eine Reihe von Turnieren gewonnen, und meine Mutter glaubte, es würde in ein paar Jahren mit auf die Olympiade gehen. Vielleicht wollte ich es an diesem Tag nur streicheln, wie ich das schon oft gemacht hatte, ich weiß es einfach nicht mehr. Jedenfalls sieht mich das Pferd, steigt hoch und rennt gegen die Balken der Koppel. Es hat sich erschreckt. Das Pferd brach sich den linken Vorderlauf, es schrievor Schmerzen. Pferde können fürchterlich schreien, ich hatte so etwas noch nie gehört. Ich hielt mir die Ohren zu und rannte weg. Am Nachmittag kam der Förster und hat das arme Tier erschossen.«
    Hans Meyer drehte sich um, er weinte lautlos, aber seine Stimme zitterte nicht. »Am Abend musste ich zu meinem Vater ins Büro. Ich saß dort, wo du jetzt sitzt, vor diesem Schreibtisch. Damals sprachen Eltern wenig mit ihren Kindern. Ich liebte meinen Vater, aber ich hatte auch Angst vor ihm. Er sagte, ich sei schuld am Tod des Pferdes, es hätte vor der Zeit sterben müssen. In Zukunft solle ich besser auf das achten, was mir anvertraut sei. Er sagte das wirklich so, vor der Zeit. Mein Vater bestrafte mich nicht. Er sagte, ich solle über den Tod des Pferdes nachdenken … Ein paar Tage später wurde es hinten im Park am unteren See vergraben. Natürlich nicht das ganze Pferd, nur seine Hufe.«
    »Ich weiß, Philipp hat mir die Stelle mal gezeigt.« Caspar sah den alten Mann an, der sein Freund war. »Aber du warst nicht schuld«, sagte er.
    »Wie meinst du das?«
    »Dein Hemd konnte es nicht erschrecken. Pferde können keine Farben erkennen. Sie sehen nur schwarz-weiß.«
    Hans Meyer stützte sich auf die Lehne des Sessels, er lächelte. »Weißt du, Caspar, das ist lieb, dass du dassagst. Aber es stimmt nicht. Pferde können Rot und Blau sehen.«
    Der alte Mann wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Er ging zurück zum Fenster, öffnete die Doppelflügel und lehnte sich gegen den Fensterrahmen. Caspar stand auf und ging zu ihm. Hans Meyer drehte sich um, er nahm Caspar in die Arme. Dann sagte der alte Mann, er wolle jetzt lieber alleine sein. Als Caspar am nächsten Morgen zurück nach Hause fuhr, fand er das alte Schachspiel auf dem Beifahrersitz.
    Nach der verlorenen Zeit bei der Bundeswehr begann Leinen das Jurastudium in Hamburg. Seit Philipps Tod hatte er sich verändert, er war still geworden, die Dinge wurden ihm fremd. Oft hatte er das Gefühl, er sei aus sich selbst herausgezogen worden. Er beobachtete sich von außen und bewegte seinen Körper wie mit einer Fernsteuerung. Dann glaubte er, er habe das Dunkle seines Vaters geerbt.
    In Roßthal war er nach der Beerdigung nur noch einmal: Vier Jahre nach dem Tod seines Freundes lud Johanna ihn zu ihrer Hochzeit ein. Sie heiratete einen zwanzig Jahre älteren Engländer, er war ihr Professor am Trinity College in Cambridge gewesen, ein freundlicher Mann mit weißen Augenbrauen. Alle hielten ihn für unterhaltsam und charmant. AlsCaspar Johanna nach der Trauung vor der Kirche gratulierte, flüsterte sie ihm ins Ohr,
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