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Der Fall Collini

Der Fall Collini

Titel: Der Fall Collini
Autoren: Ferdinand von Schirach
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in einem Schrank auf dem Speicher gefunden hatte. Sie rauchten die Zigarren des Großvaters, sahen ins Feuer und planten die kommenden Tage.
    Franz, der Fahrer der Familie, hatte Johanna vom Flughafen in München abgeholt. Sie kam durch eine Seitentür in die Halle, Philipp konnte sie nicht sehen. Als Caspar aufstehen wollte, schüttelte sie den Kopf und hob ihren Zeigefinger vor den Mund. Dann schlich sie hinter Philipps Stuhl und hielt ihm die Augen zu.
    »Wer bin ich?«, fragte sie.
    »Keine Ahnung«, sagte Philipp. »Nein, warte, eindeutig der dicke Franz mit den rauen Händen.« Er lachte, riss ihre Hände von seinem Gesicht und rannte um den Stuhl herum, um seine Schwester in die Arme zu nehmen.
    »Ein wirklich sehr hübscher Bademantel, Philipp«, sagte sie, »und so gelb …« Dann drehte sie sich zu Caspar um, sah ihn an und lächelte. »Du musst Caspar sein«, sagte sie ruhig. Er wurde rot. Sie beugte sich vor, damit er sie auf die Wangen küssen konnte, er sah ihren weißen BH. Ihr Gesicht war noch kalt. Wie Philipp war sie groß und schmal, aber alles, wasbei ihm schlaksig aussah, wirkte bei ihr elegant. Sie hatte die gleichen dunklen Augen und hohen Brauen wie ihr Bruder, aber der Mund in dem weißen klaren Gesicht war weich und spöttisch. Sie war nur ein paar Jahre älter als Caspar, aber sie war erwachsen und unerreichbar.
    Die nächsten zwei Tage telefonierte sie praktisch ununterbrochen mit ihren Freunden in England, man hörte ihr Lachen durch das Haus, und ihr Vater schimpfte, weil die Leitung dauernd belegt war. Als sie abreiste, hinterließ sie eine Leere, die niemand außer Caspar zu bemerken schien.
    Im darauffolgenden Sommer bekam Philipp sein erstes Auto, eine rote Ente mit weißen Sitzen. Es waren die letzten Ferien vor dem Abitur. Wie immer arbeiteten die beiden die erste Hälfte der Ferien in den Meyer-Werken am Fließband und gaben das Geld in der zweiten Hälfte wieder aus. Sie fuhren mit dem Wagen über den Brenner nach Venedig. Philipps Urgroßvater hatte dort in den Zwanzigerjahren eine Jugendstilvilla am Lido gekauft. Nachdem sie alle Museen und Kirchen gesehen hatten, ließen sich die Tage bald nicht mehr voneinander unterscheiden: Sie segelten durch die Lagune, spielten Tennis und verbrachten die Nachmittage in Strandcafés, auf Hotelterrassen oder lagen in den langen dunkelgrünenSchatten auf der Kaimauer. Abends fuhren sie mit dem Vaporetto nach Venedig, sie gingen in die Bars im Cannaregio und ließen sich durch die nächtlichen Straßen treiben. Fast immer kamen sie erst frühmorgens zurück, übermüdet saßen sie dann noch eine Stunde auf der Terrasse, sie hörten die Möwen schreien, und nichts fehlte ihnen.
    Am Ende der Ferien kam Johanna für eine Woche aus London zu Besuch. Am Tag ihrer Abreise lag sie nach dem Schwimmen neben Caspar. Sie stützte sich auf die Ellbogen, die Haare fielen ihr ins Gesicht. Plötzlich beugte sie sich über ihn und sah ihn an. Er schloss die Augen, ihre nassen Haare auf seiner Stirn, sie küsste seinen Mund, ihre Zähne stießen zusammen. »Mach nicht so ein ernstes Gesicht«, sagte sie lachend und legte ihre Hand auf seine Augen. Dann lief sie los, wieder zum Meer, drehte sich nochmals um und rief: »Na los, komm schon.« Natürlich kam er nicht, aber er sah ihr nach, und später konnte er sich an keine Zeit erinnern, in der er so glücklich war wie an diesen hellblauen Tagen am Meer.
    Ein knappes Jahr später machten die Jungen ihr Abitur. Philipps Eltern holten ihren Sohn nach den Feiern aus dem Internat ab. In der letzten Kurve vor dem Ortsschild Roßthal stand ein Holztieflader schräg auf der Straße. Er war aus einem Feldweg gekommenund hatte versucht, auf der engen Straße zu wenden. Der Wagen fuhr unter dem Sattelschlepper durch, die Baumstämme trennten das Dach ab. Philipps Kopf wurde abgerissen, seine Eltern verbluteten auf der Straße.
    Die Beerdigung fand in Roßthal statt. In der Kirche sagte der Priester, was für ein guter Sohn Philipp gewesen sei, und was für ein guter Enkel und was für eine Zukunft er vor sich gehabt hätte. Er sagte nichts davon, dass der Sarg geschlossen blieb, weil der Tote keinen Kopf mehr hatte. Der Priester trug eine lila Lesebrille, er stand vor der Gemeinde, machte Kreuzzeichen in die Luft, von einer besseren Welt sprach er. Caspar wurde schlecht. Noch während der Messe verließ er die Kirche. Draußen standen die Totengräber in ihren Anzügen vor den Gestellen, auf die sie später die Särge
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