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Der Fall Collini

Der Fall Collini

Titel: Der Fall Collini
Autoren: Ferdinand von Schirach
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»Ich bin nicht so gut mit Worten, Herr Leinen. Ich wollte nur sagen, dass ich nicht glaube, dass wir gewonnen haben. Bei uns sagt man, dass die Toten keine Rache wollen, nur die Lebenden wollen sie. Ich sitze den ganzen Tag in meiner Zelle und denke darüber nach.«
    »Das ist ein kluger Satz«, sagte Leinen.
    »Ja, ein kluger Satz«, sagte der große Mann, stand auf und gab Leinen die Hand.
    Collini musste sich bücken, um durch die kleine Tür zu kommen, die ins Gefängnis führte. Der Wachtmeister schloss hinter ihm ab.
    Vor der Saaltür wartete Mattinger. Er hatte eine Zigarre im Mund, und als er Leinen sah, lachte er. »Bravo, Leinen, es ist lange her, dass ich so geschlagen wurde. Auf ganzer Linie. Ich gratuliere Ihnen.«
    Sie gingen zusammen die Treppe zum Hauptportal hinunter.
    »Sagen Sie, woher haben Sie eigentlich gewusst, dass ich die Leiterin des Archivs als Sachverständige hören wollte?«, fragte Mattinger.
    »Sie haben recht, ich habe es tatsächlich gewusst. Frau Dr. Schwan und ich haben uns in Ludwigsburg gut verstanden. Sie rief mich an, nachdem Sie sich bei ihr gemeldet hatten. Ich konnte mich vorbereiten.«
    »Sehr gut, so gewinnt man Prozesse. Vermutlich sind Sie im Moment der gefragteste Anwalt der Republik. Aber, mein lieber Leinen, unrecht haben Sie trotzdem.« Der alte Anwalt zog an seiner Zigarre und blies den Rauch in die Luft. »Richter dürfen nicht danach entscheiden, was gerade politisch korrekt erscheint. Wenn Meyer damals richtig handelte, können wir ihm auch heute keinen Vorwurf machen.«
    Sie gingen durch das Hauptportal nach draußen.
    »Ich glaube, Sie täuschen sich«, sagte Leinen nach einer Weile. »Was Meyer getan hat, war immer objektiv grausam. Dass Richter der Fünfziger- und Sechzigerjahre vielleicht für ihn entschieden hätten, ändertdaran nichts. Und wenn sie es heute nicht mehr täten, heißt das nur, dass wir weitergekommen sind.«
    »Genau das meine ich, Leinen: Zeitgeist. Ich glaube an die Gesetze, und Sie glauben an die Gesellschaft. Wir werden sehen, wer am Ende recht behält.« Der alte Anwalt lächelte. »Jedenfalls fahre ich jetzt in die Ferien, ich habe einfach keine Lust mehr auf diesen Prozess.«
    Vor der Tür wartete Mattingers Fahrer vor seinem Wagen. »Wissen Sie eigentlich, dass Johanna Meyer gestern Justiziar Baumann gefeuert hat? Sie war wirklich empört, als sie erfahren hat, dass dieser Idiot Sie bestechen wollte.«
    Mattinger stieg in den Wagen, der Fahrer schloss die Tür. Er ließ das Fenster herunter. »Und wenn Sie nach dem Verfahren immer noch Verteidiger sein wollen, Leinen, kommen Sie zu mir. Ich wäre gerne Ihr Sozius …«
    Der Wagen fuhr los. Leinen sah ihm nach, bis er im Verkehr verschwunden war.

19
    Als Leinen aufwachte, war es bereits hell. Die Flügeltüren zu dem kleinen Balkon standen offen. Es war sieben Uhr, in zwei Stunden würde der zehnte Prozesstag beginnen. In Shorts und T-Shirt ging er in die Küche, kochte Kaffee und zündete sich eine Zigarette an. Er holte die Zeitung aus dem Flur, zog einen Mantel an und setzte sich mit der Tasse auf den Balkon.
    Als er den Gerichtssaal gegen neun Uhr betrat, sagte ein Wachtmeister, die Verhandlung würde heute erst um elf Uhr beginnen: »Anordnung der Vorsitzenden.« Leinen zuckte mit den Schultern, legte Robe und Akten auf seinen Platz und ging nur mit seiner Tasche ins »Weilers«. Der Wind war immer noch kühl, aber man konnte schon draußen sitzen.Ein Journalist kam an seinen Tisch. Er telefonierte laut mit seiner Redaktion, der Beginn der Verhandlung sei verschoben, man wisse nicht, weshalb, er vermute einen neuen Antrag der Verteidigung. Leinen war froh, dass der Mann ihn nicht erkannte. Er sah den Menschen zu, die ins Gericht gingen: Angeklagte, Zeugen, eine Klasse Schulkinder mit ihrem Lehrer. Ein Taxifahrer diskutierte mit einem Polizisten darüber, ob er vor dem Hauptportal parken dürfe. Leinen strich über das weiche Leder seiner Aktentasche, sie war fleckig und an zwei Stellen eingerissen. Sein Vater hatte sie ihm zum Examen geschenkt. Leinens Großvater hätte sie nach Kriegsende in Paris gekauft, sie sei so teuer gewesen, dass seine Großmutter entsetzt gewesen sei. Aber am Ende habe die Tasche sich bewährt, Großvater sei allmählich mit ihr zusammengewachsen. »Eine gute Tasche gibt Haltung«, hatte er immer gesagt.
    Kurz vor elf Uhr betrat Leinen wieder den Verhandlungssaal. Die Bank der Nebenkläger war leer. Leinen sah hinter sich in den Glaskäfig. »Wo ist
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