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Der Fall Collini

Der Fall Collini

Titel: Der Fall Collini
Autoren: Ferdinand von Schirach
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Dolmetscher sah die Augen des jungen Mannes, vielleicht hatte er vor Kurzem noch auf einer Schulbank oder in einem Hörsaal gesessen. Solange der Dolmetscher lebte, würde er sich daran erinnern – es war ein Moment der Wahrheit, aber der Dolmetscher wusste nicht, welcher.
    Irgendwann war es vorbei. Die Soldaten schaufelten die Grube zu, in der die toten Männer lagen. Am Ende wuchteten sie einen großen Stein auf die Stelle. Während der Rückfahrt sprach niemand im Wagen. Als der Dolmetscher in Genua wieder seinFahrrad bestieg, hatte der Tag längst begonnen. Er wollte nicht nach Hause, er wollte seine Frau und seine Kinder nicht ansehen. Er fuhr zum Meer, legte sich an den Strand und sah hinaus auf die Wellen.
    Am Abend betrank sich der Dolmetscher. Als er nach Hause kam, erzählte er seiner Frau von dem Morgen in der Schlucht. Sie saßen in der Küche, seine Frau starrte ihn an, bis er zu Ende erzählt hatte. Dann stand sie auf und schlug ihm ins Gesicht, immer wieder, bis sie erschöpft war und nicht mehr schlagen konnte. So standen sie lange im Dunkeln. Irgendwann schaltete er das Licht ein und gab ihr die Liste mit den Namen der Gefangenen, die er im Gefängnis eingesteckt hatte. Seine Frau las sie laut vor. Der erste Name war Nicola Collini.
    Vier Tage später erreichten die Nachrichten das Dorf der Collinis. Onkel Mauro beugte sich nachts über den Jungen und küsste ihn auf die Augen.
    »Fabrizio«, sagte er zu dem schlafenden Kind, »du bist jetzt mein Sohn.«

17
    »Der Dolmetscher«, sagte Leinen, »ist 1945 von dem Außerordentlichen Schwurgericht in Genua zum Tode verurteilt worden.« Dann setzte er sich.
    Die Stille im Verhandlungssaal war unerträglich. Selbst die Vorsitzende sah bewegungslos zu, wie Leinen seine Papiere zusammenlegte. Endlich wandte sie sich an Oberstaatsanwalt Reimers.
    »Möchte die Staatsanwaltschaft Stellung nehmen?«
    Mit der Frage löste sich die Spannung im Saal. Oberstaatsanwalt Reimers winkte ab. Er sagte, er wolle sich erst nach Prüfung der Unterlagen äußern. Man verstand ihn kaum.
    Die Vorsitzende sah Mattinger an. »Die Nebenklage, möchten Sie etwas erklären?«
    Mattinger stand auf. »Die Ereignisse, die der Verteidiger geschildert hat, sind so grauenhaft, dass ich Zeit brauche. Ich glaube nicht, dass es hier im Saal jemandem anders geht«, sagte er. »Aber eines verstehe ich einfach nicht. Ich frage mich: Warum erst jetzt? Wenn es stimmt, was hier vorgetragen wurde, gibt es doch eine Frage: Warum hat der Angeklagte so lange gewartet, bis er Hans Meyer getötet hat.«
    Leinen wollte sagen, dass sein Mandant sich später dazu schriftlich äußern werde. Er merkte nicht, dass Collini sich neben ihm bewegte. Der große Mann erhob sich und sah Mattinger regungslos an. Dann sagte er: »Meine Tante …« Das erste Mal hörte man seine dunkle, weiche Stimme. Leinen fuhr herum. »Bitte, lassen Sie mich«, sagte Collini leise zu ihm. Dann wandte er sich wieder an Mattinger. »Mein Onkel lebt schon lange nicht mehr. Tante Giulia starb am 1. Mai 2001. Sie hatte es kaum ertragen, dass ich wegen der Arbeit in das Land der Mörder gehe. Aber wenn auch ich in ein Gefängnis der Deutschen komme, hätte es sie umgebracht. Ich musste ihren Tod abwarten. Erst dann konnte ich Meyer töten. Das ist die ganze Geschichte.« Collini setzte sich hin. Er war vorsichtig dabei, er wollte kein Geräusch machen. Mattinger sah ihn einen Moment an, dann nickte er.
    »Frau Vorsitzende«, sagte er. »Ich würde gerne meine weitere Stellungnahme erst am nächsten Verhandlungstag abgeben.«
    Die Vorsitzende schloss die Sitzung.
    Leinen ging zur Parkgarage des Gerichts und holte seinen Wagen. Er fuhr lange durch die Stadt. An einer Straßenkreuzung saß ein Obdachloser mit einem Pappbecher. Unter den Linden zeigte ein Lehrer seiner Schulklasse das Denkmal Friedrichs des Großen und dann das Mahnmal der Bücherverbrennung. Ein Politiker versprach von einer Plakatwand Aufschwung und niedrige Steuern. Leinen hätte gerne mit jemandem gesprochen, aber es war niemand da, mit dem er hätte sprechen können. Er fuhr zum Trödelmarkt auf der Straße des 17. Juni und schlenderte an den Ständen vorbei. Hier sammelte sich, was übrig blieb, wenn die Wohnung eines Toten aufgelöst wurde: Besteck, Leuchter, Kunstdrucke, Kämme, Gläser, Möbel. Eine junge Frau probierte einen Pelz an, sie posierte vor ihrem Freund und machte einen Schmollmund. Ein Mann verkaufte alte Illustrierte und pries sie an, als wären sie
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