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Der Fall Collini

Der Fall Collini

Titel: Der Fall Collini
Autoren: Ferdinand von Schirach
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gerade erschienen. Leinen hörte ihm eine Zeit lang zu, dann ging er zurück zu seinem Wagen.

18
    Am nächsten Prozesstag stand Mattinger sofort auf, nachdem die Vorsitzende alle begrüßt hatte. Er sah heute anders aus als die beiden Tage zuvor. Die Quer- und Längsfalten auf seiner Stirn schienen tiefer, er war konzentriert und voller Energie. Die Vorsitzende erteilte ihm das Wort.
    »Meine Damen und Herren Richter«, sagte er. »Der Verteidiger hat uns am letzten Verhandlungstag das Motiv für die Tat des Angeklagten geliefert: Der Vater des Angeklagten wurde auf Befehl von Hans Meyer erschossen. Fabrizio Collini rächt ihn siebenundfünfzig Jahre später. Nun ist es natürlich so, dass ein Motiv ehrenhaft sein kann. Sollte aber die Erschießung von Fabrizio Collinis Vater nach damaligem Recht erlaubt gewesen sein, erscheint das Motivin einem ganz anderen Licht. Dann nämlich tötete Collini einen Mann, der nur das tat, was Recht und Gesetz war.«
    Mattinger holte Luft und drehte sich zu Leinen. »Davon abgesehen, ist es auch eine der Aufgaben der Nebenklage, das Opfer zu schützen. Und das Opfer in diesem Prozess ist nicht der Angeklagte, sondern immer noch Hans Meyer.«
    »Ich verstehe nicht, worum es Ihnen geht«, unterbrach ihn die Vorsitzende.
    Mattinger hielt einen Stapel Zeitungen in die Luft. Er wurde lauter: »Dem Verteidiger ist es gelungen, Hans Meyer als kalten Mörder darzustellen. Jede Zeitung schreibt über seine grausamen Taten, Sie haben es sicher selbst gelesen.« Er warf die Zeitungen auf seinen Tisch. »Es ist daher unvermeidlich, jetzt eine Sachverständige zu hören, die uns erklärt, ob Hans Meyer wirklich ein Mörder war. Auf einen Schlag muss ein Gegenschlag erfolgen – so sieht es die Strafprozessordnung an vielen Stellen. Anders gesagt: Wir können nicht monatelang das Gericht mit einer Beweisaufnahme zu den Erschießungen beschäftigen, um dann zu hören, dass sie erlaubt waren.«
    Mattinger zog seine Lesebrille ab, stützte sich auf den Tisch und sah die Vorsitzende an. »Ich bitte daher das Gericht, mir zu erlauben, die Leiterin des Bundesarchivs in Ludwigsburg als Sachverständigezu hören. Ich habe Frau Dr. Schwan heute hierher gebeten, sie wartet vor dem Saal.«
    »Das ist ein sehr ungewöhnliches Vorgehen, Herr Mattinger«, sagte die Vorsitzende und schüttelte den Kopf. »Sie haben keinen Beweisantrag gestellt, und Frau Dr. Schwan ist nicht geladen.«
    »Ich bin mir dessen bewusst«, sagte Mattinger. »Und ich bitte das Gericht um Nachsicht. Aber im Interesse der Nebenklage musste ich schnell handeln.«
    Die Vorsitzende sah zu den Richtern, die links und rechts von ihr saßen. Beide nickten. »Wir haben heute keine anderen Zeugen geladen. Wenn Staatsanwaltschaft und Verteidigung auch keine Einwände erheben, lasse ich Frau Dr. Schwan als Sachverständige zu. Aber ich sage Ihnen gleich, Herr Mattinger, das wird das einzige Mal sein, dass ich so einen Zirkus mitmache.«
    »Vielen Dank«, sagte Mattinger und setzte sich.
    Die Vorsitzende ließ durch einen Wachtmeister die Sachverständige ausrufen. Sie betrat den Saal und ging zur Zeugenbank. Zurückgekämmte Haare, kaum geschminkt, kluges Gesicht. Sie öffnete ihren Koffer und legte etwa zehn hellgraue Dokumentenmappen vor sich auf den Tisch. Dann sah sie die Vorsitzende an und lächelte kurz.
    »Könnten Sie uns bitte Ihren Namen und Ihr Alter in vollen Jahren nennen?«, fragte die Vorsitzende.
    »Ich heiße Dr. Sybille Schwan und bin neununddreißig Jahre alt.«
    »Und Sie sind von Beruf ?«
    »Ich bin Historikerin und Juristin, zurzeit bin ich die Leiterin des Bundesarchivs in Ludwigsburg.«
    »Sind Sie mit dem Angeklagten verwandt oder verschwägert?«
    »Nein.«
    »Frau Dr. Schwan, das Gesetz schreibt mir vor, Sie zu belehren. Sie müssen Ihr Gutachten unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen erstatten. Sie können vereidigt werden. Der Meineid ist mit mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe bedroht.« Die Vorsitzende wandte sich an Mattinger. »Herr Mattinger, Sie haben Frau Dr. Schwan zu Gericht gebeten. Das Gericht kennt das Thema nicht, zu dem Sie die Sachverständige befragen wollen. Ich gebe Ihnen daher direkt das Fragerecht. Also bitte, fangen Sie an.« Die Vorsitzende lehnte sich zurück.
    »Danke sehr.« Mattinger sah über seine Lesebrille hinweg die Sachverständige an. »Frau Dr. Schwan, können Sie uns etwas über Ihre Biografie und Ausbildung sagen?«
    »Ich habe in Bonn Jura und mittelalterliche
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