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Der Fall Collini

Der Fall Collini

Titel: Der Fall Collini
Autoren: Ferdinand von Schirach
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dem Mangel, dem Tod und der Angst. Er selbst hatte unzählige Filme gesehen, Bücher und Aufsätze gelesen. In fast jedem Fach der Schule hatten sie das Dritte Reich durchgenommen, viele seiner Lehrer hatten in den Sechzigerjahren studiert, sie wollten es besser als ihre Eltern machen. Aber am Ende blieb alles nur eine ferne Welt. Leinen schloss die Augen und versuchte sich zu entspannen.
    Als kurz nach zwei Uhr nachmittags alle wieder im Verhandlungssaal Platz genommen hatten, sagte die Vorsitzende: »Das Gericht hat keine Fragen an die Sachverständige. Herr Oberstaatsanwalt, habenSie Fragen?« Reimers schüttelte den Kopf. Sie wandte sich an Leinen: »Herr Verteidiger …«
    Auf der Wanduhr über den Zuschauern war es 14:06 Uhr. Die Zuschauer, die Journalisten, die Richter, der Staatsanwalt, Mattinger und die Sachverständige – alle sahen Leinen an, alle warteten. Licht fiel durch die hohen gelben Fenster und brach sich in der Brille der Vorsitzenden. Staub stand in der Luft. Draußen auf der Straße hupte ein Wagen.
    Die Vorsitzende sagte: »Offenbar will auch die Verteidigung keine Fragen stellen. Gibt es Anträge auf Vereidigung der Sachverständigen? Nein? Gut. Kann die Sachverständige entlassen werden?« Reimers und Mattinger nickten. »Dann danke ich Ihnen für Ihr kurzfristiges Erscheinen, Frau Dr. Schwan, und …«
    »… ich habe noch ein paar Fragen«, unterbrach Leinen laut. Mattinger öffnete den Mund, aber er sagte nichts.
    »Ziemlich spät, Herr Verteidiger. Aber bitte.« Die Vorsitzende war ärgerlich.
    Leinens Stimme hatte sich verändert, sie hatte jetzt nichts Weiches mehr. »Frau Dr. Schwan, können Sie uns sagen, wer die Strafanzeige gegen Hans Meyer erstattet hat?«
    »Es war Ihr Mandant, Fabrizio Collini.«
    Einer der Richter hob mit einem Ruck seinenKopf. Niemand hatte das gewusst. Mattingers Gesicht wurde weiß.
    »Wann hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen eingestellt?«, fragte Leinen.
    Die Sachverständige blätterte in den Akten: »Am 7. Juli 1969. Fabrizio Collini erhielt den Einstellungsbescheid am 21. Juli 1969.«
    »Nur zur Klarstellung: Wir sprechen jetzt über die Einstellung, nach der Herr Mattinger Sie vor der Mittagspause gefragt hat?«
    »Ja.«
    »Hat die Staatsanwaltschaft Stuttgart das Verfahren gegen Hans Meyer eingestellt, weil die Partisanenerschießung erlaubt war?«
    »Nein.«
    »Was? Nein?« Leinen wurde laut. Er spiegelte das Erstaunen aller im Saal. Aller außer ihm selbst. »Aber das haben Sie uns doch eben gesagt.«
    »Nein, das habe ich nicht. Herr Mattinger hat nur geschickt gefragt, der Eindruck konnte vielleicht entstehen. Ich habe aber lediglich gesagt, dass die Ermittlungen eingestellt wurden. Der Grund dafür war jedoch ein ganz anderer.«
    »Ein anderer Grund? Hat die Erschießung etwa nie stattgefunden?«
    »Doch.«
    »Dann war Hans Meyer nicht beteiligt?«
    »Hans Meyer war der befehlshabende Offizier.«
    »Das verstehe ich nicht. Warum wurde das Verfahren gegen ihn dann eingestellt?«
    »Ganz einfach …« Sie ließ sich mit der Antwort Zeit. Leinen wusste, dass diese Frage ihr großes Thema war. Sie hatten das stundenlang in Ludwigsburg zusammen diskutiert. »… die Taten waren verjährt.«
    Im Saal wurde es unruhig.
    »Verjährt?«, wiederholte Leinen. »Ob Hans Meyer schuldig war, wurde nie untersucht?«
    »So ist es.«
    »Wenn ich Sie also richtig verstanden habe, hat mein Mandant der Staatsanwaltschaft den Mann genannt, der seinen Vater hat erschießen lassen. Fabrizio Collini hat sich an alles gehalten, was der Rechtsstaat von ihm verlangt: Er hat Strafanzeige erstattet. Er hat die Beweise benannt. Er hat auf die Behörden vertraut. Und dann bekommt er ein Jahr später einen Brief mit einem einzelnen Blatt Papier, auf dem steht, das Verfahren sei eingestellt, weil die Tat verjährt ist?«
    »Ja. Die Tat verjährte durch ein Gesetz, das am 1. Oktober 1968 in Kraft trat.«
    Die Journalisten hatten ihre Blöcke wieder aus ihren Taschen geholt und schrieben mit.
    Leinen tat immer noch erstaunt. »Wie bitte? 1968war doch das Jahr der Studentenrevolten. Das Land war im Ausnahmezustand. Die Studenten machten ihre Eltern für das Dritte Reich verantwortlich. Und in ausgerechnet diesem Jahr – 1968 – soll vom Bundestag beschlossen worden sein, dass solche Taten verjähren?«
    Mattinger erhob sich, er hatte sich wieder gefangen: »Ich beanstande die Frage. Wo sind wir hier eigentlich? Ist das ein Strafprozess oder eine Geschichtsvorlesung? Das
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