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Der Fall Collini

Der Fall Collini

Titel: Der Fall Collini
Autoren: Ferdinand von Schirach
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Skandal auf. Und als alle wieder aufwachten, war es zu spät. Sehr vereinfacht gesagt, bedeutete das Gesetz, dass bestimmte Mordgehilfen nur wie Totschläger und nicht wie Mörder zu bestrafen sind.«
    »Und das hieß …«
    »… das hieß, dass ihre Taten plötzlich verjährt waren. Die Täter kamen frei. Stellen Sie sich vor: Zur gleichen Zeit wurde in Berlin von der Staatsanwaltschaft ein gewaltiges Verfahren gegen das Reichssicherheitshauptamt vorbereitet. Als das EGOWiG erlassen wurde, konnten die Staatsanwälte ihre Sachen wieder einpacken. Die Beamten in diesem Amt, die die Massaker in Polen und der Sowjetunion organisiert hatten, die Männer, die für den millionenfachen Tod von Juden, Priestern, Kommunisten und Roma verantwortlich waren, konnten nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden. Drehers Gesetz war nichts anderes als eine Amnestie. Eine kalte Amnestie für fast alle.«
    »Aber wieso konnte man das Gesetz nicht einfach wieder zurücknehmen?«
    »Das ist ein Grundprinzip des Rechtsstaates. Wenn eine Straftat einmal verjährt ist, kann das nie wieder rückgängig gemacht werden.«
    Leinen stand auf. Er ging die wenigen Schritte bis zur Richterbank und nahm einen der grauen Kommentare,die vor der Vorsitzenden auf dem Tisch standen, in die Hand. Er hielt das Buch der Sachverständigen hin. »Verzeihen Sie bitte, ist das dieser Dreher? Dr. Eduard Dreher, der den populärsten Kommentar zum Strafrecht geschrieben hat? Ein Kommentar, der heute auf dem Tisch fast aller Richter, Staatsanwälte und Verteidiger steht?«
    »Genau«, sagte die Sachverständige. »Er hat den Kommentar ›Dreher/Tröndle‹ mitverfasst.«
    Leinen ließ den Kommentar zurück auf den Tisch der Richter fallen. Dann setzte er sich wieder.
    »Wurde Dreher zur Verantwortung gezogen?«
    »Nein. Bis heute lässt sich nicht zweifelsfrei belegen, dass Dreher nicht auch einfach nur irrte. Dreher starb 1996 in allen Ehren.«
    »Zurück zu unserem Fall«, sagte Leinen. »Sie haben gesagt, dass Partisanenerschießungen grundsätzlich nach dem damals geltenden Völkerrecht unter engen Voraussetzungen erlaubt waren. Wie hätten die Gerichte und die Staatsanwaltschaft in den Sechzigerjahren Hans Meyer beurteilt? Wäre er ein Mörder oder ein Gehilfe gewesen?«
    »Das ist natürlich eine sehr theoretische Frage. Wenn ich die Taten Hans Meyers mit anderen Verfahren aus dieser Zeit vergleiche … Ich glaube, diese Partisanenerschießung wäre von den Gerichten nicht für grausam gehalten worden.«
    »Wäre das heute anders?«, fragte Leinen.
    »Durch den Auschwitz-Prozess in Frankfurt von 1963 bis 1965 wurden zum ersten Mal größere Teile der Bevölkerung mit dem Grauen konfrontiert. Aber erst Ende der Siebzigerjahre drehte sich die Stimmung wirklich. Damals wurde eine amerikanische Serie im deutschen Fernsehen ausgestrahlt. Sie hieß: ›Holocaust‹. Jeden Montag sahen die Sendung zwischen zehn und fünfzehn Millionen Menschen und diskutierten darüber. Wir leben und urteilen heute anders als in den Fünfziger- und Sechzigerjahren.«
    »Und was wäre das Ergebnis?«, fragte Leinen.
    »Die Partisanen wurden auf Befehl Meyers in eine Grube hineingeschossen. Sie trugen keine Augenbinden. Sie sahen die Toten, auf die sie fielen. Sie mussten anhören, wie ihre Kameraden vor ihnen erschossen wurden. Der Transport zum Ort ihrer Ermordung dauerte Stunden, und sie wussten die ganze Zeit über, dass sie sterben würden. Das Hineinschießen in die Grube erinnert an Massenerschießungen in Konzentrationslagern … Doch, ich glaube, dass der Bundesgerichtshof die Dinge heute anders beurteilen würde: Meyer wäre als Mordgehilfe anzusehen.«
    »Aber wenn ich Sie richtig verstanden habe, hätte das auch nichts genutzt …«
    »Ja, das stimmt. Meyers Tat wäre verjährt. Gesetze und Rechtsprechung hätten ihn geschützt.«
    »Ich danke Ihnen, Frau Dr. Schwan.«
    Leinen setzte sich wieder. Er war erschöpft.
    Die Vorsitzende entließ die Sachverständige unvereidigt. Dann sagte sie: »Wir unterbrechen jetzt. Angesichts der neuen Beweisvorträge wird das Gericht beraten, wie das Programm in den nächsten Wochen aussehen wird. Bitte halten Sie sich in den nächsten Wochen die Montage und Donnerstage für die Sitzungen frei. Fortsetzung der Hauptverhandlung ist nächsten Donnerstag in diesem Saal. Auf Wiedersehen.«
    Der Saal leerte sich allmählich. Leinen blieb sitzen. Collini schwieg lange, und Leinen wollte ihn dabei nicht unterbrechen. Irgendwann kam er zurück.
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