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Der Fall Collini

Der Fall Collini

Titel: Der Fall Collini
Autoren: Ferdinand von Schirach
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hat nichts mehr mit dem Verfahren zu tun. Der Bundestag wollte offenbar damals, dass diese Verbrechen verjähren sollen. Nicht der Gesetzgeber steht hier vor Gericht, sondern der Angeklagte.«
    »Im Gegenteil, das hat sehr viel mit der Schuldfrage zu tun, Herr Mattinger«, sagte Leinen. Seine Stimme war hart. »Es ändert zwar nichts daran, dass Collini getötet hat. Aber wie Sie selbst sagten, kann es ein großer Unterschied sein, ob seine Tat willkürlich war oder ob sie nachvollziehbar ist.«
    Die Vorsitzende drehte ihren Füller langsam in ihrer Hand. Sie sah erst Mattinger und dann Leinen an. »Ich lasse die Frage zu«, sagte sie schließlich. »Sie berührt das Motiv des Angeklagten und damit kann sie für die Schuldfrage entscheidend sein.« Mattinger setzte sich wieder, es hatte keinen Sinn, sich gegen die Entscheidung zu beschweren.
    »Können Sie die Frage noch einmal stellen?«, sagte Frau Dr. Schwan.
    »Gerne. Aber ich will sie anders formulieren«, sagte Leinen. »Herr Mattinger hat eben gesagt, dass der Bundestag 1968 gewollt hätte, dass die nationalsozialistischen Verbrechen verjähren. Ich frage Sie als Historikerin: Stimmt das?«
    »Nein. Die Sache ist viel komplizierter.«
    »Komplizierter?«
    »Es gab in diesen Jahren eine große Debatte in Deutschland. Alle Verbrechen aus der Zeit des Dritten Reiches waren seit 1960 verjährt. Nur die Mordtaten nicht. Man wollte sie weiter verfolgen. Aber dann kam es zu einer Katastrophe.«
    »Was ist passiert?« Natürlich kannte Leinen die Antwort, aber er musste die Sachverständige so durch die Befragung führen, dass alle verstanden, worum es ging.
    »Am 1. Oktober 1968 wurde ein ganz und gar unscheinbares Gesetz erlassen. Es hieß EGOWiG, also ›Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz‹. Das Gesetz schien sogar so unwichtig, dass es im Bundestag nicht einmal diskutiert wurde. Niemand der Abgeordneten begriff, was es bedeutete. Keiner sah, dass es die Geschichte verändern würde.«
    »Das müssen Sie uns bitte näher erklären.«
    »Das Ganze begann mit einem Mann namens Dr.Eduard Dreher. Dreher war im Dritten Reich Erster Staatsanwalt am Sondergericht Innsbruck. Wir wissen nicht viel über ihn in dieser Zeit, aber das, was wir wissen, ist schrecklich. So beantragte er zum Beispiel die Todesstrafe gegen einen Mann, der Lebensmittel gestohlen hatte. Auch für eine Frau, die illegal ein paar Kleiderkarten gekauft hatte, wollte er die Todesstrafe. Ihre Verurteilung zu fünfzehn Jahren Zuchthaus reichte Dreher nicht, er ließ sie in ein Arbeitserziehungslager bringen.«
    »Arbeitserziehungslager?«
    »Vergleichbar mit einem Konzentrationslager«, sagte die Sachverständige. »Nach der Kapitulation ließ sich Dreher in der Bundesrepublik zunächst als Rechtsanwalt nieder. Aber 1951 holte man ihn ins Bundesjustizministerium, und sein Aufstieg begann. Dreher wurde Ministerialdirigent und Leiter der Strafrechtsabteilung.«
    »Wusste man von Drehers Vergangenheit?«
    »Ja.«
    »Und trotzdem ist er eingestellt worden?«, fragte Leinen.
    »Ja.«
    »Was passierte mit dem Gesetz?«
    »Man muss zunächst wissen, dass nach der Rechtsprechung nur die höchste Führung der Nazis Mörder waren«, sagte die Sachverständige. »Alle anderengalten als Mordgehilfen. Es gab nur wenige Ausnahmen.«
    »Also Hitler, Himmler, Heydrich und so weiter waren die Mörder und die anderen nur ihre Helfer?«
    »Ja. Sie galten nur als Befehlsempfänger.«
    »Aber … aber fast jeder im Dritten Reich hat nur Befehle ausgeführt«, sagte Leinen.
    »Richtig. Jeder Soldat, der Befehle ausführte, war nach dieser Rechtsprechung nur ein Gehilfe.«
    »Und«, fragte Leinen, »wenn ein Mann in einem Ministerium von seinem Büro aus den Abtransport von Juden in ein KZ organisiert hatte, war er nach dieser Rechtsprechung auch kein Täter?«
    »Ja. Die sogenannten ›Schreibtischtäter‹ waren danach alle nur Gehilfen. Keiner von ihnen galt vor Gericht als Mörder.«
    »Abgesehen davon, dass mir das absurd erscheint – hat sich diese Unterscheidung denn überhaupt in der Strafverfolgung ausgewirkt?«
    »Zunächst nicht.«
    »Aber Sie sprachen doch von einer Katastrophe«, sagte Leinen.
    »Dieses Gesetz von Dreher, das EGOWiG, änderte die Verjährungsfristen. Das kleine Gesetz klang so harmlos, dass keiner bemerkte, was vor sich ging. Die elf Landesjustizverwaltungen, die Mitglieder des Bundestages, der Bundesrat und die Rechtsausschüsse– jeder verschlief es. Erst die Presse deckte den
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